EVA-MARIA HOUBEN

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TEXTE (deutsch)
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Veränderung des Hörens durch Grenzerfahrungen
(Aus: Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert – Bruckner – Wagner - ..., Saarbrücken, 2000)

Antoine Beuger, unwritten page –
Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen
(Aus: Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert – Bruckner – Wagner - ..., Saarbrücken, 2000)

Stichnoten (2001/2002)


TEXTS (english)
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Presence – Silence - Disappearance (2010)
Lecture at i and e  festival 2010, Dublin




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Aus: Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert – Bruckner – Wagner- ..., Saarbrücken, 2000

Veränderung des Hörens durch Grenzerfahrungen

 

"Die Kontrabaß- oder Monstrum-Ophikleiden sind sehr wenig bekannt. In sehr großen Orchestern könnten sie von Nutzen sein; bisher hat sie aber niemand in Paris spielen wollen, da sie einen Aufwand von Atem erfordern, welcher die Lungenkraft, selbst des stärksten Menschen, überschreitet."(1)

Aufführung neuer Musik, Hören mit neuen Ohren: Erschöpfende, anstrengende Unternehmungen voller Atemlosigkeit. Grenzen der Ausführung und der Wahrnehmung werden berührt und gesprengt; ein Atem ist zu gewinnen, der das Menschenmögliche übersteigt. Alte Musik, gehört mit neuen Ohren: Was war bislang möglich, und was ist weiterhin möglich, weiterhin denkbar? Wie läßt sich so auf Musik vergangener Epochen zurückhören, daß Wahrnehmungsmöglichkeiten entdeckt werden?

Der gemäßigte Klangbereich wird übersprungen: Klänge sind zu laut oder zu leise, zu hoch oder zu tief, zu lang oder zu kurz, Klangfolgen sind zu langsam oder zu schnell. Übergänge werden mit dem Ohr aufgespürt: Übergänge zwischen der Bewegung rhythmischer Impulse und der Bewegung im Innern des Klanges selbst, Entsprechungen zwischen der Motivik und der Teiltonstruktur eines Klanges. Die Grenzen zwischen Klang und Pulsation und zwischen Klang und Geräusch werden durchlässig. Die Wahrnehmung des Hörers wird irritiert und infragegestellt: Ich höre, wie ich immer gehört habe, höre zugleich, daß ich auch anders hören kann. Ich höre, daß ich nur einen Ausschnitt höre. Ich höre, daß ich anders höre als mein Nachbar.

Im Nachhall, der einen Raum schafft, in dem das Ohr dem Verschwinden des Klanges nachspürt, ist zu hören, was nicht mehr und noch nicht zu hören ist. Der sich in der Weite des Raumes verflüchtigende Klang spricht eine Aufforderung aus: Höre weiter, auch und gerade dann, wenn nichts mehr zu hören ist! Das Weiter-Hören führt über die Grenze des Aufhörens hinaus. So wird ein Aufhören zum Auf-Hören, das neue Horizonte erschließt. Die Nachhall-Stille als Zwischenraum nach dem Letzten und vor dem Nächsten wird zum Raum für Verwandlung.

Der Augenblick der Atemlosigkeit und Sprachlosigkeit ist ein Augenblick der Grenzerfahrung. Die körperliche Belastung der Ausführenden ist so groß, daß die physischen Grenzen erreicht werden: Der Atem geht aus. Neuer Atem öffnet neu und führt anders weiter. Ein Ereignis sprengt die Grenzen der Vorstellung, des Begreifens: Die Sprache geht verloren, das Wort bleibt im Halse stecken. Im "Versuch, wieder Sprache zu gewinnen"(2), wird der Schrecken gebannt, wird Distanz zur Katastrophe geschaffen. Der Augenblick der Atem- und Sprachlosigkeit, der als Augenblick höchsten Erschreckens und Staunens den je einzelnen auf die Grenzen der eigenen Körperlichkeit zurückwirft, sprengt zugleich Begrenzungen.

Unter dem Gesichts-(Gehörs-)punkt von Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit ist das Alte neu, das Neue alt. Die Grenzen des Körpers, des Ohrs, des Vorstellungshorizonts werden offengelegt, um das Potential einzuholen, das außerhalb dieser Grenzen liegt. Grenzerfahrungen werden auf dem scheinbaren Umweg über Denken gemacht: Und Denken wird auch gesteigertes Fühlen, ein Fühlen mit allen Sinnen.

Wie hält man einen Klang in der Zeit, daß er bleibt und nicht vergeht? Ein Klang ist vergänglich: Der Streicherbogen wird neu angesetzt, der Bläseratem geht zu Ende und wird durch den neuen Atembogen fortgesetzt. Ein unendlicher Atem ist uns nicht gegeben. Aber durch die Hervorkehrung der Übergänge, des notwendigen Richtungswechsels zwischen Hin und Her und Aus und Ein wird Fortsetzung immer wieder neu möglich. An einen Atembogen schließt sich der nächste an; geht der Atem des einen zu Ende, so atmet ein anderer weiter. Die Grenzen werden Übergänge zum nächsten.

 

(1) Hector Berlioz, Instrumentationslehre. Ergänzt und revidiert von Richard Strauss. Teil 1, Leipzig o.J., S. 362. >zurück

(2) Nach einer Ausführungsanweisung für Kundry; vgl. Richard Wagner, Parsifal, II. Aufzug.  >zurück

 
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Literaturhinweise
 
Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert – Bruckner – Wagner - ..., PFAU-Verlag, Saarbrücken, 2000

Aufführung neuer Musik, Hören mit neuen Ohren: Erschöpfende, anstrengende Unternehmungen voller Atemlosigkeit. Grenzen der Ausführung und der Wahrnehmung werden berührt und gesprengt; ein Atem ist zu gewinnen, der das Menschenmögliche übersteigt. Alte Musik, gehört mit neuen Ohren: Was war bislang möglich, und was ist weiterhin möglich, weiterhin denkbar? Wie läßt sich so auf Musik vergangener Epochen zurückhören, daß Wahrnehmungsmöglichkeiten entdeckt werden?

Neue Musik: Musik, die immer wieder neu entsteht. Alle Beteiligten erfahren: Ich weiß nichts, ich habe nichts im Griff, ich höre nichts - und höre gerade deshalb immer weiter. Immer wieder neu die Konfrontation mit dem leeren Blatt, mit der Weite des Raumes, in dem der Klang verhallt und zerfällt: Der Atem stockt, die Sprache geht verloren, das Wort bleibt im Halse stecken.

Die Wahrnehmung des Hörers wird irritiert und infragegestellt: Ich höre, wie ich immer gehört habe, höre zugleich, daß ich auch anders hören kann. Ich höre, daß ich nur einen Ausschnitt höre. Ich höre, daß ich anders höre als mein Nachbar.

Neues Hören wird ein Hören mit allen Kräften des Denkens und Fühlens.

Grenzüberschreitung und Maßlosigkeit sind zu suchen. Genug ist noch lange nicht genug. Die Grenzen des Körpers, des Ohrs, des Vorstellungshorizonts, der Sprache werden offengelegt, um einzuholen, was außerhalb dieser Grenzen liegt. Grenzerfahrungen werden auf dem scheinbaren Umweg über Denken gemacht: Und Denken wird auch gesteigertes Fühlen, ein Fühlen mit allen Sinnen.

Komponisten, Interpreten und Hörer lernen zu fliegen: Alte Musik, die mit neuen Ohren als neue Musik gehört wird, kann ebenso wie zeitgenössische Musik die Erfahrung neuer Freiheit vermitteln. Der Sprung hinaus aus der Zeit, hinaus aus dem Konzertsaal wird jederzeit möglich: Die Grenzen zwischen Kunst und Leben werden durchsichtig, damit der Alltag sich - vielleicht - in eine menschenwürdige Realität verwandelt, die über die Kunst aufgeschlossen wird.

 

Leseproben:

Einleitendes Kapitel: Veränderung des Hörens durch Grenzerfahrungen

Antoine Beuger, unwritten page – Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen

 
Weitere Veröffentlichungen::


Eva-Maria Houben, Gelb: Neues Hören; Vinko Globokar, Hans-Joachim Hespos, Adriana Hölszky, Pfau-Verlag, Saarbrücken, 2. Aufl. 1996



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Aus: Eva-Maria Houben, Alte Musik mit neuen Ohren. Schubert – Bruckner – Wagner - ..., Saarbrücken, 2000

Antoine Beuger, unwritten page
Unschärfe des Scharfen, Schärfe des Unscharfen




(...)

Kompositionen von Antoine Beuger machen immer wieder auf das Aufhören des Klanges aufmerksam. Klang schwingt ein, damit er aufhören kann. Die Unschärfe der Übergänge von Stille zu Klang, von Klang zu Stille, von Klang zu Klang, von Stille zu Stille und die Unschärfe von Beginn und Schluß werden ins Zentrum der Wahrnehmung gerückt. Dabei wird die Musik aufs äußerste reduziert. Innerhalb einer großen Zeitspanne erklingen oft nur wenige Töne.

ins ungebundene für Orgel (1997) beginnt mit einem leisen Ton beliebiger Tonhöhe. "beginn des tons ist beginn des stückes."(1) So wird der Beginn selbst nicht wahrgenommen. Erst wenn das Stück bereits begonnen hat, wird der Einschnitt des Beginns als solcher bewußt. Der bei jedem Orgelkonzert selbstverständliche Zwang zur Entscheidung, jetzt gleich zu beginnen, wird hier wie mit Scheinwerfern beleuchtet; es entsteht eine Grauzone zwischen jetzt gleich und gerade eben. Der nächste Einschnitt erfolgt nach zehn Minuten, weil ab jetzt die Sicherheit der Anwesenheit des Tones verlorengeht; zehn Minuten nach Beginn kann der Ton jederzeit aufhören: "frühestens nach 10, spätestens nach 40 minuten, endet der ton." Die nächste Zäsur wird gesetzt, wenn der Ton tatsächlich aufhört, spätestens nach 40 Minuten. Das Aufhören des Tons ist ein Schnitt: Ab jetzt ereignet sich nichts Bestimmtes mehr bis zum Schluß des Stückes "frühestens nach 60, spätestens nach 90 minuten". Der Schluß ist der letzte Einschnitt. In dieser Musik ist der Ton fast nur da, damit er nach seinem Aufhören abwesend sein kann. Während seiner Anwesenheit verändert sich der Ton mit der Wahrnehmung des Hörers: Der Ton wird - je nach Registrierung - als mehr oder weniger geräuschhaft empfunden; unterschiedliche Teiltöne sind im Laufe der Zeit herauszuhören; der Ton verändert seine Farbe bei Kopf- und Körperbewegungen des Hörers. Während der Abwesenheit des Tons verändert sich die Stille. ins ungebundene für Flöte (1998) verunklart die Schnittstelle zwischen den Phasen der An- und Abwesenheit des Tons, weil der von der Flöte gespielte Ton, der "eher tief. eher kurz. sehr leise" ist, während seiner Anwesenheit "ganz ab und zu" klingt: So bleibt nach seinem letzten kurzen Erklingen längere Zeit unklar, ob es wirklich das letzte Erklingen war oder ob der Ton noch einmal (und noch einmal etc.) auftreten wird.(2) Die plötzliche Abwesenheit des Tons im Orgelstück wird als blitzartiger Schnitt erlebt. Die Unschärfe dieses scharfen Schnitts entsteht durch seine Blitzhaftigkeit. Er ist immer schon längst vorbei, sobald man seiner gewahr wird: Unschärfe des Scharfen. Im Hinblick auf das Flötenstück hingegen könnte zunächst der oberflächliche Eindruck entstehen, daß der Ton, der eben nicht kontinuierlich, sondern "ganz ab und zu" klingt, sich allmählich verabschiedet; dieser Eindruck täuscht. Die Stille zwischen den Tönen ist eine andere Stille als die Stille nach dem letzten Ton. Der Ton ist ebenso plötzlich nicht mehr da wie der kontinuierlich angehaltene Orgelton: Schärfe des Unscharfen. Vom Paradox des unscharfen, unklaren Schnitts und - auf der anderen Seite - des scharfen, klaren Übergangs her sind Entscheidungen zu treffen und vom Hörer nachzuvollziehen. Das Ende des Orgelstücks ist insofern problematisch, als der Ausführende, je nach den räumlichen Verhältnissen, häufig unsichtbar bleibt. Was heißt da: "frühestens nach 60, spätestens nach 90 minuten, endet das stück .."? Das Ende des Stückes für Flöte ist klar: "nach frühestens 60, spätestens 90 minuten, endet das stück." Es endet mit einem Abgang, einem Abbruch, einem Abbau, in jedem Fall mit einem Schlußstrich, der die unscharfe Trennschärfe vor Augen und Ohren führt. Der Ausführende des Orgelstücks muß sich etwas einfallen lassen, um ein deutliches Ende zu markieren: So kann er beispielsweise ein anderes Stück spielen oder seinen Abgang inszenieren. Es ist Aufgabe des Interpreten, das Ende klar zu machen, damit die Unklarheit des Klaren ans Licht kommt, damit die Unschärfe des Schnittpunktes bewußt werden kann. Ein drittes Stück, ins ungebundene für Sprechstimme (1999), ähnelt der Version für Flöte: Der menschliche Atem kann nicht wie der Orgelatem mindestens zehn Minuten lang ausströmen und erst dann aufhören zu fließen. Wie im Flötenstück der Ton "ganz ab und zu" erklingt, so erklingt diesmal "ganz ab und zu" das Wort "und".(3) Die Stille nach dem letzten Erklingen des Wortes läßt wie die Stille nach dem letzten Erklingen des Tons im Flötenstück den Hörer im Ungewissen, ob dies das letzte Erklingen war oder nicht, ob das Wort noch anwesend oder schon abwesend ist. Der Schnitt ist wie im Flötenstück unscharf in der Wahrnehmung der Hörer und zugleich scharf bezüglich seiner Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit. Die Konjunktion "und" führt immer weiter. Mit jedem Erklingen und Verklingen, auch mit dem letzten Erklingen und Verklingen, schafft das Wort die Verbindung zum Danach. Mit dem Orgelstück ins ungebundene teilt das Stück für Sprechstimme das Motto, ein Wort aus Friedrich Hölderlins Gedicht Mnemosyne: "Und immer / Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht."(4)

(...)

In den neueren Stücken für zwei Ausführende von Antoine Beuger spielt jeder der beiden in einem eigenen, begrenzten Zeitraum, ohne daß es zu Überschneidungen der Zeiträume kommt. ein ton. eher kurz. sehr leise für zwei Ausführende (1998) zieht sehr präzise Grenzmarken im 30-Sekunden-Takt: Einer spielt den eher kurzen, sehr leisen Ton "einmal in der ersten hälfte jeder minute", einer "einmal in der zweiten hälfte jeder minute". "irgendwann" spielt einer der beiden den Ton nicht mehr, und dann auch nicht mehr bis zum Ende, "irgendwann" spielt auch der andere den Ton nicht mehr, ebenfalls dann nicht mehr bis zum Ende des Stückes.(5) Das Aufhören ist also für die beiden Ausführenden endgültig. Das Stück soll "mindestens 30 minuten" dauern. Wenn nach 30 Minuten keiner der beiden aufgehört hat, geht es weiter; haben beide bereits sehr frühzeitig aufgehört (vielleicht schon in der ersten Viertelstunde), kann das Stück über die Minuten-Marke hinaus weitergehen oder auch nicht; es kann auch vorkommen, daß einer der beiden sehr früh aufhört zu spielen, einer erst nach Stunden, in diesem Fall kann das Stück mit dem Aufhören des letzten Ausführenden zu Ende sein oder auch weitergehen. Die engen Begrenzungen der auf jeden der zwei Ausführenden zugeschnittenen Zeitraster und der Zeitrahmen des Stückes insgesamt erweisen sich als Markierungen eines Spielraums, in dem unterschiedliche Entscheidungen des einzelnen möglich werden, Entscheidungen, die sich auch auf die Nähe oder Entfernung des einzelnen vom andern auswirken.

Auch das Stück aus dem garten für zwei Ausführende (1998) läßt eine besondere Beziehung der beiden Ausführenden zueinander entstehen. Wieder spielen beide einen Ton, "eher kurz", "sehr leise". Die Zeiträume werden diesmal weit auseinandergefaltet, die Grenzen weit gesteckt: "die beiden ausführenden haben abwechselnd 10 minuten zeit." "das stück dauert mehrere stunden."(6) Diesmal aber hört keiner der beiden endgültig auf zu spielen, wenn er den Ton einmal nicht gespielt hat. Die beiden Ausführenden spielen in den ihnen jeweils zugewiesenen Zeiträumen von zehn Minuten Dauer den Ton oder auch nicht: "in ihrer jeweiligen zeit spielen sie einmal den ton oder bleiben still." Nach mehreren Stunden kann das Ende eintreten: Das ein- oder auch mehrmalige Ausbleiben des Tons aber ist noch kein Zeichen für das Ende. Auch kann nicht einer allein das Ende bestimmen, das aber definitiv zu bestimmen ist.

An diesen Stücken für zwei Ausführende ist vielleicht deutlicher noch als an den Solostücken zu erkennen, worin die Stille sich von der Pause unterscheidet. Auch die Pause kann eine veränderliche Dauer haben; variable Dauer ist wohl weniger eine spezielle Eigentümlichkeit der Stille. Doch: In der Stille entsteht Raum als weiter Außen- und Innenraum. Beim Übergang von Klang in Stille entfaltet sich der Raum durch seine Weitung und Öffnung nach außen und nach innen hin. In der Stille horcht das Ohr in die Weite des geschaffenen Raumes, wirkt sich die An- und Abwesenheit von Menschen, Dingen und Klängen im Raum aus, werden die Beziehungen zwischen Ausführenden und Hörern als unsichtbare Fäden im Raum sichtbar. Es scheint, daß der Stille mehr als der Pause diese Räumlichkeit zu eigen ist, die nicht ein Maß abgibt, sondern als Räumlichkeit leibhaftiger Anwesenheit und Abwesenheit, konkreter Existenz im Raum und wirklicher Atmungen zu verstehen ist. Als eine solche erfaßt sie auch den zeitlichen Aspekt gegenwärtigen Aufmerkens, Achtgebens, Wachseins, Gefordertseins.
 
(...)

Ein Spannungsverhältnis zwischen Setzen und Geschehenlassen tut sich auf. So notwendig die kompositorischen Entscheidungen und diejenigen der Ausführenden sind, so sehr besteht der Klang "in seiner ganzen natürlichen Differenzialität" auf Eigenleben. In Beugers Komposition unwritten page für Violine solo (1994) bringen Klänge im Wechsel von Klang und Stille diese "Differenzialität" zur Wahrnehmung, die nicht im einzelnen vorab zu bestimmen, sondern im Augenblick der Ausführung erst zu hören ist: wenn der Klang sich "entfaltet". Im Unterschied zu den bisher erwähnten Stücken wurden einzelne Parameter per Zufallsverfahren festgelegt: die Anzahl der gleichzeitig erklingenden Töne (einfacher Griff oder Doppelgriff), die Färbung des Klanges durch Flageolett-Griff (bzw. der Verzicht auf diese Färbung), die Art des Flageoletts, die jweilige Tonhöhe bzw. die gleichzeitig zu greifenden Tonhöhen (bei Doppelgriff), die Dynamik und die Dauer. Mikrointervalle wurden nicht berücksichtigt.

Das Stück stellt einen Ausschnitt aus unendlich vielen Klängen dar, einen Ausschnitt aus einem weiten Raum von Möglichkeiten. In der Partitur ist vermerkt: "unwritten page besteht aus 6 klingenden und 5 stillen Teilen. Die Klänge werden in größter Ruhe gespielt. Der Abstand zwischen zwei Einsätzen ist immer MM = 15. Die Länge eines Klanges wird durch die Länge des Striches bezeichnet. Es gibt kein Legato. Ein bis zum nächsten Einsatz durchgezogener Strich bedeutet: bis möglichst kurz vor dem nächsten Einsatz."(7) Die "stillen Teile" zwischen den sechs Klangfolgen dauern 34, 55, 13, 55 und noch einmal 55 Sekunden. Diese Stille der "stillen Teile" ist eine andere als die Stille zwischen zwei Klängen innerhalb eines "klingenden Teils": Beide Arten der Stille schaffen jedoch Kontinuität. Dort, wo die letzte noch zum gleichförmig beibehaltenen "Abstand zwischen zwei Einsätzen" gehörende Stille am Ende eines "klingenden Teils" auf die Stille eines "stillen Teils" stößt, prallen zwei verschiedene Arten von Stille aufeinander; dort, wo der "durchgezogene Strich" signalisiert, daß der Klang bis zum Einsatz des nächsten gehalten wird, erfolgt doch der Schnitt beim Zusammenprall der beiden Klänge. Zäsuren trennen Klang und Stille, doch auch Stille und Stille, Klang und Klang. Jeder Schnitt aber schafft Verbindung.

Die Dauer eines "stillen Teils" ist in Sekunden angegeben, und die Dauer eines Klanges und einer entsprechenden Stille in den "klingenden Teilen" wird am Maß
MM = 15 und an der Strichlänge gemessen. In den "klingenden Teilen" entsteht ein Zeitraster aus Pulsationen, in den "stillen Teilen" ist dieses Raster aufgehoben - Wechsel von Gehen und Stehen: "Es ist eine Musik der Einzelklänge, ein ganz langsames, plan- und absichtsloses Dahinschreiten und immer wieder Innehalten, Stille. Ein ganz einfacher Tanz: gehen und stehen. Zeit in Bewegung, Zeit als Intensität."(8) Dem Wechsel von "klingenden" und "stillen Teilen" entspricht der Wechsel von Gehen und Stehen, der auch als ein Wechsel von äußerer und innerer Bewegung aufgefaßt werden kann. In der Stille wird die Bewegung fortgesetzt.

"Alle Klänge sind leise. Die Bezeichnungen ‘ppp’ - ‘f’ beziehen sich auf Abstufungen innerhalb eines durchaus leisen Spektrums. Sie sollten eher qualitativ verstanden werden als Grade der Präsenz eines Klanges, etwas von ‘äußerst zerbrechlich, gerade noch wahrnehmbar’ bis ‘leise, aber richtig präsent’."(9) Die klanglichen Differenzen entstehen durch die Instabilität und Fragilität der Klänge. Notiert sind häufig schwierige Griffe, unterschiedliche Flageoletts in unterschiedlichen Lagen, so daß die Klänge bei der extrem zurückgenommenen Dynamik unterschiedlich ansprechen. Der Spieler ist aufgerufen, sich auf die Aktionen des Klanges einzulassen. Der erste Klang im letzten "klingenden Teil" - nach dem letzten "stillen Teil" von 55 Sekunden Dauer - ist solch ein Klang, der ein reges Eigenleben führt: Die beiden Strichweisen passen kaum zueinander, zwischen dem dis2 und dem dis4 entstehen Schwebungen. Der nächste Klang verliert durch die Aufeinanderfolge an Vertrautheit, obgleich er für sich allein genommen ein eher gewöhnlicher Klang ist; seine Gewöhnlichkeit erscheint in einem anderen Licht:

 

(1) Antoine Beuger, ins ungebundene für Orgel. Hier auch die folgenden Zitate. >zurück

(2) Antoine Beuger, ins ungebundene für Flöte. >zurück

(3) Antoine Beuger, ins ungebundene für Sprechstimme. >zurück

(4) Es handelt sich um die 3. Fassung des Gedichts. Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe. Erster Band. Hrsg. von Günter Mieth, München (3. Aufl.) 1981, S. 394-395. >zurück

(5) Antoine Beuger, ein ton. eher kurz. sehr leise für zwei Ausführende. >zurück

(6) Antoine Beuger, aus dem garten für zwei Ausführende. >zurück

(7) Antoine Beuger, unwritten page, Anmerkungen. >zurück

(8) Antoine Beuger, in: Textheft zur CD Maderna - Beuger - von Schweinitz - Stiegler, Edition Wandelweiser Records 9606. Clemens Merkel, Violine. >zurück

(9) Antoine Beuger, unwritten page, Anmerkungen. >zurück




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Eva-Maria Houben
Stichnoten


wirklich still...
 
verschwinden

stillstand




wirklich still...

 
Aus Musik kann ich unterschiedliche Arten von Pausen heraus hören. Musikwissenschaftler ordnen verschiedenen Pausenarten verschiedenartige Funktionen zu. Pause kann, so ist zu hören und zu lesen, etwas bedeuten...
wie Klang.


Ich fange jetzt an, weniger die Pause zu hören, die auf etwas verweist, etwas bedeutet, eine bestimmte Funktion hat... – ich fange jetzt an, mehr die wirkliche Pause zu hören, die Pause, die gefährlich wird: Musik ist weg, Musik ist verschwunden. Da ist nichts mehr, da ist n/Nichts. 
 

Ich höre nichts – und höre, dass ich immer noch etwas höre...
Dies ist wirklich so.
Plötzlich ist es wirklich still...
Etwas ist wirklich so... 
Wirkliche Stille: Musik ist tatsächlich weg. Da bin ich als Hörer allein, da sind wir alle miteinander allein.

 
Wenn Stille wirklich sein kann... – kann Klang wirklich sein und sonst nichts? Kann Klang für sich sein? Das ist die Frage. 
Das ist eine Frage nach dem Hören und eine Frage nach dem Material.

 
Stille und Klang bewirken immer etwas, ob sie etwas bedeuten oder nicht.

 

   
Ó eva-maria houben

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verschwinden


ein klang verschwindet.
solches verschwinden kann sich auf unterschiedliche weise ereignen. klang kann verklingen, in stille eintauchen. klang kann aber auch in viele klänge eintauchen,
aus vielen nicht mehr herauszuhören sein.


klang verschwindet, indem er aufhört: in stille eintaucht.
klang verschwindet, indem er in viele klänge eintaucht.

 
was lässt sich weiter sagen?
ein klang erscheint, indem er aus stille hervortritt.
ein klang erscheint, indem er aus vielen klängen hervortritt.


wo ist klang nach dem verschwinden?
wo ist klang vor dem erscheinen?

 
was lässt sich sagen?
(fast?) nichts ist da, etwas erscheint.
vieles / (fast?) alles ist da, etwas erscheint..
etwas verschwindet, (fast?) nichts ist da..
etwas verschwindet, vieles / (fast?) alles ist da..

 
lässt sich das sagen?

 
 

Ó eva-maria houben
 
                                                                                                 > nach oben          



   
stillstand

 
klang unter einer fermate, pause unter einer fermate: musik scheint zum stillstand gekommen zu sein.
länger andauernde stille: stille scheint sich stillstand anzunähern – und umgekehrt. - stillstand und stille wären zu unterscheiden, nicht aber voneinander zu trennen?
klang steht still da: es klingt, und doch ist es still. wo ist die stille?


nicht nur ein klang, sogar ein ganzes stück kann still stehen: still da sein.
wo ist die stille? diese frage kann ich jetzt auch so stellen: wo ist das stück?

 
die musik steht, treibt uns nicht voran. alles steht still, nichts geht weiter? ist das wirklich so? ich höre und atme weiter beim hören, höre das stück und mich selbst
und höre: nichts steht still.
nichts steht still, alles geht weiter?


ich höre noch einmal den einzelnen klang, der still da ist: still steht. und höre, wie
der klang atmet. wie klang sich bewegt, vibriert, pulsiert. dort ist der klang, und hier bin ich.
ich höre bewegung im stillstand, stillstand in der bewegung.

 
ich höre jetzt noch einmal das stück und höre fortschreitung im stillstand, stillstand
in der fortschreitung.
hier bin ich, und dort ist das stück.

 
ich höre da-sein.

 

 

Ó eva-maria houben

   
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