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GOTTFRIED WANNER   > texte      




 
GODOT IST GEKOMMEN
 
eine monologische szene
 
 
 

- für reinhold koch -
 
                                                                                         
 
 
 
 
 
personen:      godot
                        r.
                        (beide männliche subjekte)
 
 
 
 
godot und r. sitzen in mittelständischer alltagskleidung (godot etwas legerer, r. etwas gediegener ausgestattet) auf einfachen holzstühlen an einem kleinen tisch.
 
godot sitzt zurückgelehnt in einem gewissen abstand vom tisch, so dass er bequem die beine übereinander schlagen kann. er hält die ganze zeit eine großformatige tageszeitung aufgeschlagen in den händen, hinter der er während der gesamten szene verborgen bleibt. er schlägt nur ein paar mal die beine abwechselnd übereinander und sagt die ganze zeit nichts.
 
r. sitzt schreibend und sinnierend am tisch. ab und zu unterbricht er diese tätigkeit und  spricht die folgenden sequenzen. es bleibt dem darsteller des r. überlassen, welche sequenzen oder sätze er vor sich hin oder hinaus ins leere spricht, und mit welchen er sich an godot wendet, der aber sowieso auf nichts reagiert.
 
 
 
 
 
r.:
 
 
es wird also dabei bleiben.
 
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es gibt schlechterdings kein entkommen. noch als tote gehen wir über in das, was vor uns und ohne uns schon war, was immer es war. das nichts ist eine illusion.
 
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die materie ist ein irrtum. es ist nicht die frage, ob sie existiert; dass sie existiert, ist der irrtum.
 
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unsere existenz zeigt zuallererst, dass man sich nicht einmal auf das nichts verlassen kann. das ist trost und verhängnis zugleich.
 
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nichts ist so evident wie die existenz der materie. bei unseren versuchen, ihre struktur zu ergründen, verflüchtigt sie sich in mathematische abstraktionen. an ihrer basis stoßen wir ins leere.
 
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der urknall: eine zufällige explosion des nichts, hervorgerufen durch einen strukturfehler. nicht einmal das nichts ist vollkommen. als es sich auch nur einen augenblick anmaßte, eine struktur zu besitzen, explodierte es.
 
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nicht das leben ist eine „marotte der materie“, wie cioran meinte, sondern die materie selbst ist die marotte. der urknall war eine marotte des nichts.
 
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es war zu erwarten, dass du nichts sagst.
 
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natürlich ist das nichts nur eine idee und setzt als solche die existenz der materie voraus. seine differenzierung ist ein ästhetisches projekt.
 
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zufall und unendlichkeit:  zunächst nur eine semantische variation auf den titel „zufall und notwendigkeit“.
raum und zeit sind fragen der konstitution. die weisen, wie materie sich konstituiert, sind zufällig; notwendig nur, insofern ihre konstitution auch interne regeln entfaltet (die naturgesetze). das endliche ist zufällig, die ausnahme, die auch uns bestimmt. das unendliche steht jenseits des zufalls, es ist identisch mit dem nichts, von keiner notwendigkeit berührt, die nichtevidenz an sich.
die unsterblichkeit kann nur eine idee der sterblichen sein.
das universum ist diejenige ausnahme, die uns ihre regeln vor die füße geworfen wie auch in unseren verstand versenkt hat. das ist das anthropische prinzip, ein elaborat der reflektierenden sterblichkeit.

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das sein ist die erbärmlichste ausnahme, die die regel des nichts zugelassen hat. wir müssen auslöffeln, was uns das nichts in einem schwächeanfall eingebrockt hat.

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deine haltung respektiere ich natürlich.
 
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der zufall produzierte schließlich auch die idee des zufalls. und die ruhmsüchtige materie entlockte ihm den schlüssel zur entdeckung ihrer selbst.
 
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der urknall war die universale katastrophe schlechthin, die katastrophe an sich, die explosive geburt des seins aus dem nichts, die sinnlose materialisation des potentiellen, welche die materialität aller katastrophen ermöglichte, der verrat der ewigkeit.
der absturz eines sich selbst nicht mehr genügenden nichts in die fatalen selbstbespiegelungen eitler materie.
 
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die welt selbst ist das urteil, das sie verdient hat.
 
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das sein ist das in die niederungen der sucht herabgekommene nichts. seine droge ist die materie.
 
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die zwecke sind so endlos wie die gründe. in der mitte sitzen wir und wissen nichts.
wir wissen nicht einmal, ob wir ins nichts hinein- oder hinausgehalten sind.
 
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die experten des gehobenen geschmacks mögen darüber streiten, in welchem maß dein kommen dem metaphysischen, dem ontologischen oder dem dialektischen kitsch zuzuschreiben ist.
 
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ich finde keine rechtfertigung der welt, die über ihre faktizität hinausginge. einen schluss von der faktizität auf ihre notwendigkeit gibt es nicht. es gibt nur die endlose tautologie ihrer faktizität.
 
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selbstverständlich übernehme ich sämtliche unkosten.
 
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das alles, von dem beispielsweise die mathematiker sagen, es existiere, oder, falls es gegeben  wäre, was alles daraus folge, verleiht dem in seinem inneren steinschwer lastenden sein eine geradezu immaterielle leichtigkeit zu seinen rändern hin. einige seiner anthropomorphen blüten entfalten sich auf jener ebene reiner vorstellungen und abstrakter begriffskomplexe, auf der wir unser verständnis von der substanz  als struktur  der materie suchen: dort, wo  das für uns greifbare der materie, ihre komplementären erscheinungsformen als masse und energie in raum und zeit, sich längst aufgelöst hat. dort verschwindet das, was für uns immer schon evident war, unsere basis und herkunft, die welt, aus der wir selbst, unsere erfahrungen und unser vermögen, sie zu analysieren, unsere zerebrale potenz, gewachsen sind, in einer wolke geistiger konstrukte. gleichwohl tragen diese wiederum, bei aller scheinbar luziden raffinesse, notwendig den stempel der begrenztheit ihrer organischen herkunft. so dass unser dasein, so gewaltig seine historischen bilder, so blutig und grausam seine spuren sind, sich immer in jenem nebelhaften fraktal verlieren wird, in welchem die welt und unsere vorstellungen von ihr niemals sich berühren können.
 
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die verlautbarungen der der erdrinde entkommenen, den verheißungen des sauerstoffs zugewandten kreatur platzten in das sanft brausende konzert, dessen dirigent die bedeutungslosigkeit ist und das für kein ohr bestimmt war.
 
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in sternloser nacht eine vollständig geschlossene, hohle kugel. ihre glatte innenwand sei vollkommen verspiegelt, in ihrem zentrum befinde sich eine lichtquelle.
diese kugel sei unendlich groß, die lichtquelle unendlich klein, unendlich hell und unendlich schwer.
sonst existiere nichts.
 
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ein mann, der die reine zeit, bar jeglicher beimischung von ereignissen, erkunden sollte, legte sich auf die lauer. das war vor undenklichen zeiten. man fand ihn jetzt in einer alpinen eisspalte, in seinen zügen die spuren gelassener melancholie.
 
 
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