WANDELWEISER                                                                             > texts
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von Michael Pisaro

Erstveröffentlichung in englischerSprache:
http://erstwords.blogspot.com/ Mittwoch, 23. September, 2009
                                                                                             



Wandelweiser ist ein Wort

Wandelweiser ist ein Wort für eine bestimmte Gruppe von Menschen, die seit Jahren intensiv zusammen arbeiten und sich gegenseitig in ihrer Arbeit unterstützen wollen. Für mich ist es noch immer ein kleines Wunder, dass wir einander gefunden haben und dass es nach über 17 Jahren immer noch funktioniert: wir haben unterschiedliche musikalische Hintergründe, leben in unterschiedlichen Teilen der Welt und fühlen uns frei, wenn nötig, getrennte Wege zu gehen. Die „Gruppe“ kommt eigentlich so gut wie nie in ihrer Ganzheit zusammen und sie umfasst außer Komponisten auch ausführende Musiker, bildende Künstler und Schriftsteller: Freunde eben. In Haan (bei Düsseldorf) gibt es ein Büro. Dort werden die Partituren gesammelt, die Website gepflegt und die CD’s herausgebracht. Dieser Ort, liebevoll betreut von Antoine Beuger, ist von wesentlicher Bedeutung für die Kontinuität der Organisation, aber nicht für die tiefen Verbindungen, die zwischen uns existieren. Das Gefühl, dass wir ein gemeinsames Ziel verfolgen, ist, denke ich, der zahllosen schönen musikalischen und künstlerischen Momenten zu verdanken, die wir miteinander erlebt haben



(Antoine Beuger)                                                      (Burkhard Schlothauer)


Edition Wandelweiser war der Name, den Burkhard Schlothauer dem frischgebackenen Noten- und Tonträgerverlag gab, den er 1992 mit Antoine Beuger gründete. Es könnte etwa „Wegweiser des Wandels“ bedeuten, wenn man es als eine Kombination aus den Worten Wandel und Wegweiser auffasst; oder vielleicht wörtlicher: „wandle weise“ – (oder, wenn man den zweiten Teil als „der Weise“ versteht: weiser Mann des Wandels?) Was immer es bedeuten mag, ich war bei dem Namen immer etwas skeptisch und habe ihn eher humorvoll verstanden – einfach als ein Produkt von Burkhard’s sprachlicher Kreativität und nicht etwa als ein ästhetisches Programm. (Ich bin auf jeden Fall sicher, dass er nicht suggerieren wollte, dass wir besonders weise sind.) Wie dem auch sei, Antoine hatte kurz vorher Jürg Frey, Chico Mello, Thomas Stiegler und Kunsu Shim kennengelernt und es muss irgendwie klar gewesen sein, dass sie genug gemeinsam hatten (nicht nur musikalisch) um sich zusammen zu tun. Sie hatten das Gefühl, dass es möglich sein müsste, etwas zu tun unabhängig von den reichen, zu selbstsicheren Institutionen der Neuen Musik in Deutschland und der Schweiz, zumal ihnen bewusst war, dass sie im Status quo, den diese Organisationen etabliert hatten, nicht wirklich einen Platz hatten. Nach und nach kamen andere hinzu – darunter ich selbst, Manfred Werder, Carlo Inderhees, Radu Malfatti, Marcus Kaiser, Eva-Maria Houben, Craig Shepard, André Möller, Anastassis Philippakopoulos (und einige anderen, die später wieder ausgestiegen sind, z.B. Makiko Nishikaze und Klaus Lang). Irgendwann, so schien es, waren wir „vollzählig“, obwohl wir weiterhin (vielen) anderen interessanten Musikern begegneten. (Darüber später mehr.)

 
Die ersten Jahre der Organization waren sehr bewegt. Mitglieder kamen und gingen. Eine Zeit lang gab es Verbindungen zu Edition Thürmchen in Köln und Edition Mikro in Zürich, zwei weiteren Verlagskollektiven der musikalischen Avantgarde. Etwa fünf Jahre lang, angefangen Mitte der neunziger Jahre, war Wandelweiser verbunden mit Zeitkratzer, ebenfalls ein Ensemble / Verlag, unter dem Dachnamen Timescraper (der englischen Übersetzung von Zeitkratzer). Burkhard gehörte als einziger beiden Gruppen an. Zeitkratzer (geleitet von Reinhold Friedl) orientierte sich damals mehr in Richtung Live Elektronik. Es gab aber dennoch einige Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gruppen. So spielte Zeitkratzer Werke von Schlothauer, Malfatti und Beuger ein, und Zeitkratzermitglieder wie Axel Dörner und Ulrich Krieger standen den Komponisten der Edition Wandelweiser ästhetisch durchaus nahe. Ab 2000 gingen die beiden Gruppen wieder ihre eigenen, getrennten Wege. (Wobei es natürlich weiterhin Verbindungen gibt – seit 2007, zum Beispiel, lehrt Ulrich Krieger am California Institute of the Arts.)


Wandelweiser in 1992

1992 war diese musikalische Richtung eine absolute Randerscheinung – nahezu unbemerkt, sogar innerhalb der experimentellen Avantgarde. In Nord-Amerika, und, soweit ich weiß, überall außerhalb Deutschland und der Schweiz, war sie praktisch nichtexistent. Nur durch Zufall wäre man auf sie gestoßen.
 
 
Ich habe auf folgende Weise darüber erfahren. Kunsu Shim – der, obwohl er inzwischen nicht mehr dazugehört, eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung der Gruppe hatte – war im Herbst 1992 mit seinem Lebensgefährten, dem Komponisten Gerhard Stäbler, zu Gast in Chicago. Kunsu, ein gebürtiger Koreaner, lebte schon seit mehreren Jahren in Deutschland. Er war sehr still (und etwas schüchtern), aber sehr freundlich – das Gegenteil der lauten amerikanischen “Neue- Musik-Leute”, die ich damals kannte und die erste Person seit langer Zeit, mit der man über die Musik von John Cage und Morton Feldman reden konnte.


  (John Cage)


 Im Frühling 1992 war John Cage einige Wochen an der Northwestern University, wo ich unterrichtete,  zu Gast gewesen. August ’92 war er gestorben und sein Name war noch sehr in der Luft. Damals – und ich denke eigentlich durchgängig, seit der Veröffentlichung von Silence in 1961 – schienen Musiker mehr daran interessiert, Cage’s Ideen zu diskutieren als seine Musik.
 
Für Kunsu war die Musik von Cage, und von denjenigen die mit ihm und in seinem Geist arbeiteten, radikaler und wichtiger als seine Schriften: gerade weil sie so viel offen ließ, was noch zu erforschen blieb (einer ähnlichen Einschätzung begegnete ich später bei anderen Wandelweiserkomponisten). So wurde etwa 4‘33“ nicht als Witz oder als Zen-Koan oder als philosophische Aussage betrachtet: es wurde als Musik gehört. Auch wurde es im besten Sinne als unvollendetes Werk gesehen: es schaffte neue Möglichkeiten für die Kombination (und das Verständnis) von Klang und Stille. Stille war, einfach gesagt, ein Material und eine Störung des Materials zugleich.
 

1990 hatte ich angefangen relativ lange Stillen in meine Stücke hineinzunehmen, ohne genau zu wissen, warum ich das tat. Ich wollte damit aufhören, Musikern detailgenau vorzuschreiben, was sie zu tun haben und wollte neue Möglichkeiten für die Spieler schaffen, ihrem jeweils eigenen, individuellen Klangempfinden nachzugehen innerhalb der einfachen, klaren Struktur, die ich zur Verfügung stellte. Ich hatte allerdings den Eindruck, mit diesem Vorhaben alleine zu sein.
 
Diese sonderbare Synchronizität gehört irgendwie zur Entstehungshintergrund von Wandelweiser: zu der Zeit experimentierten mehrere von uns (darunter Kunsu, Antoine, Jürg, Manfred und Radu) mehr oder weniger vorsichtig in diese Richtung, ohne zu wissen, dass auch andere damit beschäftigt waren.
 


Kunsu Shim und meine erste Begegnung mit stiller Musik

Kunsu gab mir einige Kassetten mit seiner Musik. Eine davon war ein neues Stück für Marimba solo mit dem Titel …floating, song, feminine… (1992). Es gab kaum Klänge auf dieser Aufnahme! Ich war sofort fasziniert. Bandrauschen, einige Nebengeräusche (ein Stuhl, ein Husten, einige nicht genau bestimmbare Klänge) und ganz ab und zu unvermittelt einen einzelnen kurzen Marimbaton, der aus dem Nichts heraus zu kommen schien: wie der Einstich einer Bleistiftspitze in ein Blatt Papier oder ein roter Luftballon am klaren Himmel. (Später erfuhr ich, dass der Spieler auf einer Leiter stand und hin und wieder einen Schlägel auf die Stäbe fallen ließ.) Es war so klar, so einfach, so schlicht, dass sogar ein Dreijähriger es erfassen würde, und doch zugleich so geheimnisvoll und so komplex in seiner Wirkung.
 

Diese frühen Stücke von Kunsu, darunter vague sensations of something vanishing (für Streichquartett und Kontrabass, 1992), marimba, bow, stone, player (1993), expanding space in limited time (für Violine solo, 1994), und die chamber pieces (1994) schienen die Welt auf einen Nadelkopf zu stellen. In expanding space in limited time legt der Bogen manchmal in fünf Minuten nur die Hälfte seiner Länge zurück. Beim Betrachten des Spielers könnte man denken, er sei eine lebende Skulptur. Bei einer Aufführung des Stückes in Northwestern’s Pick-Staiger Hall in 1994 dauerte es 20 Minuten, bevor ich überhaupt einen Klang von der Geige hören konnte. Nachdem ich ihn aber gehört hatte, wurde die Musik im Laufe der fast zweistündigen Dauer geradezu unwahrscheinlich reich: diese äußerst kompakte Miniaturwelt schien mehr Klang zu enthalten als die statistischen Komplexitäten von Xenakis (oder das black metal von Burzum). Die Musik offenbarte die Komplexität der “Stille” selbst. Stille in der Musik war nicht das Ausbleiben von Klängen, nicht nur eine Geste: es war ein anderer Klang, einer mit mehr Dichte als die Klänge von Instrumenten.
 

 
Keine Entschuldigung


(Jimi Hendrix)

Warum mögen wir das? Diese Frage ist wirklich sehr schwer zu beantworten. Warum würde ein ausgebildeter Musiker wie ich, aufgewachsen mit Jimi Hendrix und Avant-rock, Free Jazz, und klassischer Musik, plötzlich zu der Überzeugung kommen, dass es nichts Aufregenderes gibt als Musik mit sehr wenigen Klängen? Im Grunde hat jedes Wandelweisermitglied seine eigene Version dieser Geschichte. Ich habe lange darüber nachgedacht, was denn so faszinierend und inspirierend ist an diesem Stück (und an den anderen Stücken dieser Richtung, die ich hörte).  Ich kam zu dem Ergebnis, dass es zwar möglich ist, den Momenten nachzuspüren, die die Weichen für eine solche Reaktion gestellt haben. Die Reaktion selbst ist aber unerklärlich.  Sie ist letztendlich nicht logisch. Sie ist nicht das Ergebnis eines schrittweisen Prozesses. Man trifft irgendwann eine Entscheidung und hat damit einen Scheideweg hinter sich gelassen. Erschreckend und beruhigend; fremd und vertraut; aufregend und normal: alles gleichzeitig.
 

Es gibt keinen Grund, diese Musik zu lieben. Man liebt sie einfach (oder eben nicht). Ästhetik und Geschichte kommen erst nachträglich. Essays (wie dieser) werden einen nicht dazu bringen, sie mehr zu mögen, und werden auch ihr Weiterexistieren letztlich nicht begründen können. Das letzte, was ich tun möchte, wäre, etwas zu normalisieren, das ich weiterhin seltsam finde.
 
 
Hat man sich einmal auf diesen seltsamen Weg begeben, dann öffnet sich eine Welt von Differenzen. Was vom Eingang her wie ein enger Korridor aussieht, erweist sich als eine Welt für sich: allerlei Nebenwege, Pfade, Zwischenstationen. Kleine musikalische Unterschiede, die manche vielleicht nur als minimale Abweichungen wahrnehmen (etwa der Unterschied zwischen 50 und 60 Sekunden Stille, oder ein paar Dezibel, oder der Klangfarbenunterschied zwischen einer tiefen Posaune und einer E-bow-Gitarre, oder zwischen digitaler und aufgenommener Stille) werden für diejenige, die damit arbeiten, unglaublich faszinierend. Aus meiner Erfahrung mit reiner Stimmung war mir das bekannt: der Unterschied zwischen einer temperierten und einer reinen (5/4) großen Terz ist für manche bedeutungslos, für andere von wesentlicher Bedeutung. (Wenn jemand über eine bestimmte Musik sagt, “sie klinge immer gleich” wird sie mich wahrscheinlich besonders interessieren. In meiner ästhetischen Erfahrung ist es reizvoller, mir aus Dingen, die scheinbar gleich sind, meine eigene Landschaft machen zu können, als eine Gruppe unterschiedlicher Dinge angeboten zu bekommen, die alle schon deutlich ihren Platz auf der Landkarte haben.
 
 
 

Zum Abschluss der Kunsugeschichte

Die Aufnahme von Kunsu’s Musik ging sicherlich viel weiter in diese Richtung als ich bis dahin je gegangen war. Bald schickte er mir weitere Partituren (es gab damals noch nicht so viele) und Aufnahmen. So lernte ich die Musik von Antoine (das unglaubliche lesen, hören: buch für stimme, für Stimme und Zuspielband aus 1991) und Jürg (seine sehr schlichte und schöne Invention für Klavier, aus 1990) kennen. (Später wurde klar, dass Frey und Beuger beide schon länger in diese Richtung arbeiteten – Frey, indem er sich ab den achtziger Jahren allmählich von seiner Orientierung auf die Musik der New Yorker School aus den sechziger Jahren entfernte, und Beuger, der schon als Jugendlicher Stille in seinen Stücken integriert hatte und Anfang der neunziger Jahren wieder zum Komponieren gekommen war mit Stücken wie schweigen, hören für Orchester (1990) – sehr wahrscheinlich das erste Werk, dass wie ein “Wandelweiser”-Stück klang.)

Kunsu und ich trafen uns ein gutes Jahr später wieder (1994, glaube ich). Danach nahm er sich ohne mein Wissen die Freiheit, Beuger einige meiner jüngsten Partituren zu zeigen. Einige Monate später bekam ich einen Anruf von Antoine und wir hatten ein langes Gespräch (wer schon einmal das Vergnügen hatte, ein solches langes Telefongespräch mit Antoine zu führen, wird wissen, was für ein fantastisches Erlebnis das sein kann). Am Ende dieses Gesprächs fragte er mich, ob ich daran interessiert wäre, dem Kollektiv beizutreten.
 

Kurz danach fuhr ich nach Deutschland und traf ich einige der Mitglieder (Antoine, Jürg, Burkhard, Chico, Thomas) und zukünftigen Mitglieder (Radu, Carlo) zum ersten Mal. Es war ein unglaublicher Haufen interessanter, starker, unterschiedlicher, inspirierender und sehr humorvoller Leute! Es war, als begegnete ich einigen von Walter Zimmermann’s Wüstenpflanzen - inmitten der



fruchtbaren zentraleuropäischen Hochkultur (auch wenn einige ursprünglich aus Korea, Brasilien, oder aus nicht besonders angesagten Orten in der Schweiz, in Österreich oder den Niederlanden stammten).
 
 
 
Klänge machen mit Steinen (Stones)


Eine der Aktivitäten, an denen ich während meiner Reise in 1995 teilgenommen habe, war die Einspielung von Christian Wolff’s Stones in Burkhard Schlothauer’s Atelier in Berlin. Ich liebe diese CD, aber der Aufnahmevorgang selbst war unvergesslich. Wir hatten nur eine Probe: gerade genug, um die Mitwirkenden im Aufnahmeraum zu positionieren und vorzustellen, was jeder zu tun beabsichtigte.
 
Jeder Beteiligte hatte sich eine eigene Version der Partitur gemacht, ausgehend von einigen minimalen Vorgaben von Antoine – ich glaube zehn Klänge, was immer man darunter verstehen wollte, zu spielen im Laufe der 70-minütigen Aufnahmedauer.
 
Natürlich hatte jeder eine unterschiedliche Art und Weise, das Stück zu realisieren.
 
Antoine benutzte Zufallsoperationen, die unter anderem ergeben hatten, dass er drei Klänge gleichzeitig machen sollte. Das war keine einfache Aufgabe bei den Klängen, die er sich ausgesucht hatte (zum Beispiel: etwas im Gleichgewicht halten und es gleichzeitig auf zwei verschiedene Weisen mit Steinen anschlagen, wenn ich mich richtig erinnere) .
 
Eine vergnügliche Akrobatik, die aber am Ende recht gut gelang.
 
Thomas Stiegler machte alle seine Steinklänge mithilfe seiner Geige, indem er Steinchen mit Bogenhaar zwischen den Seiten befestigte oder winzige Steinchen auf den Korpus fallen ließ – es war wie eine Miniatursymphonie auf einer Violine.
 
Burkhard zog einen großen Stein über eine lange, lange Zeit sehr behutsam über den Boden des Ateliers.
 
Kunsu Shim‘s Klänge sollten sich alle innerhalb eines Zeitraums von ungefähr zwei Minuten ereignen, nach etwa 55 Minuten der Aufnahme. Er saß 55 Minuten lang ohne sichtbare Bewegung (bzw., aus unserer Sicht, ohne jegliche Bewegung) und machte dann sehr ruhig, fast unhörbar, zehn äußerst zarte Klängen mit einigen Steinchen und einem Tuch.
 
Jürg Frey, der schon viele Stücke von Christian Wolff ausgeführt hatte, hatte sich vorgenommen, ganz im Stile von Wolff, einige seiner Klänge von Aktionen der anderen abhängig zu machen, ohne das diese das wussten. Dies hatte zufällig ergeben, dass die Auslöser für den Beginn und für das Ende eines Klanges (d.h. die Aktionen von zwei verschiedenen Ausführenden) es erforderlich machten, dass er zwei größere Kalksteine fast eine halbe Stunde lang sehr zart aneinander rieb. Am Ende war Jürg mit weißem Staub bedeckt.



Eine Wandelweiser CD hören

Das Zustandekommen dieser Aufnahme und besonders die Idee, dass wir so etwas auch noch veröffentlichen würden (das geschah 1996) reflektiert eine der wichtigsten Aspekte des Denkens, das innerhalb von Wandelweiser stattfand. Selbstverständlich unterscheidet sich eine Aufnahme in vielerlei Hinsicht von einer Live-Aufführung. Der wichtigste Unterschied liegt, aus meiner Sicht, in der Weise, wie man sie erlebt. Ein Konzert ist eine Reihe von Momenten, in denen etwas Undefinierbares passiert durch Klänge und zwischen Menschen. Diese Momente sind von einer intensiven Sinnlichkeit (Bilder, Klänge, Gefühle, Gerüche, Geschmäcke) aber vergänglich. Mit einer Aufnahme hingegen hat man eine Beziehung. Es kann eine flüchtige Beziehung sein – dann ähnelt es einer Aufführung. Aber die besten Aufnahmen sind, auf ihre je eigene und sich wiederholende Weise, nachhaltig.
 
 
 
Eine CD ist ein Artefakt, das sich nicht darum kümmert, was man mit ihm macht. Man kann sich dasselbe Lied 500 Mal anhören; man kann sich weigern, es zu öffnen (vgl. Brian Olewnick’s Besprechung von Sectors (for Constant) von Sean Meehan); man kann es an die Wand hängen, es verkaufen oder es wegschmeißen.

Bei einer Aufnahme wird Klang gespeichert um gebraucht zu werden. Wie kann man eine Aufnahme wie Stones gebrauchen? Hört man sie sich an wie jede andere CD (was in diesem Fall durchaus möglich ist)? Oder findet man Wege, sie anders, passender, zu hören: indem man sie etwa den ganzen Tag auf niedriger Lautstärke abspielt (so dass man vergessen kann, das die CD spielt, bis plötzlich ein Klang an die Oberfläche kommt und dich daran erinnert, das sie immer  noch da ist). Oder indem man sie so laut abspielt, dass man alles hört.

Mit anderen Worten, die Aufnahme kann als etwas offenes betrachtet werden, so ähnlich wie ein Instrument – ein besonderes Instrument, dass eine begrenzte Menge von Klängen hervorbringt, die aber eine variable Beziehung haben können zu der Umgebung, in der sie abgespielt werden. Es gibt viele CD’s im Katalog der Edition Wandelweiser, die man relativ normal hören kann. Aber daneben gibt es solche wie Stones, calme étendue (spinoza), Branches, silent harmonies in discreet continuity, exercise 15, ein(e) ausführende(r) seiten 218 – 226, phontaine, Transparent City, und im sefinental (um nur die offensichtlichsten Beispiele zu nennen). So entsteht eine interessante Zweigleisigkeit: einerseits die Aufnahme als Konzept zur Nutzung als Musik, und andererseits die Einladung an den Zuhörer, auf eigene Weise damit zu experimentieren, wie man eher traditionell dargebotene Musik erleben kann.  (Ich will nicht behaupten, dass Wandelweiser diese Kategorie für sich gepachtet oder sie etabliert hat – nur, dass sie wichtig ist für die Art und Weise, in der ich die Musik auf den Wandelweiser CD’s erlebe.)

 

Das erste Jahrzehnt

Nach einiger Zeit, als Konzerte stattzufinden begannen (in Düsseldorf, Aarau, Zürich, München, Chicago, usw.) und CD’s herausgebracht wurden (acht auf einmal in 1996), bekam die Gruppe einige Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Neue-Musik-Presse
 
und bei verschiedenen Musikfestivals. Die Präsenz von Radu Malfatti (ich kannte seine Arbeit in der improvisierten Musik zu dem Zeitpunkt noch überhaupt nicht) und Manfred Werder (der gerade von einem mehrjährigen Parisaufenthalt in die Schweiz zurückgekehrt war) machte sich bemerkbar. In diesem Stadium (den späten 90-er Jahren) schien Wandelweiser eher eine deutsche Angelegenheit zu sein – nicht nur war dort das „Hauptquartier“, auch die meisten Sachen passierten dort. Das war lustig, da die meisten Mitglieder nicht aus Deutschland stammten. (Ich muss hier hinzufügen, dass die „Schweizer Fraktion“, Jürg und Manfred, mit ihren vielen kraftvollen, denkwürdigen Konzertreihen in Aarau und Zürich, viel dazu beigetragen haben, dass Wandelweiser nicht nur eine deutsche Sache war.)
 

Ich habe oft darüber nachgedacht. Vielleicht hat es etwas zu tun mit der hohen Wertschätzung, die der amerikanischen Avantgarde in Europa, besonders in Deutschland, entgegengebracht wurde, im Unterschied zu dem Status, den diese zu der Zeit in den Vereinigten Staaten hatte. Ich hatte oft den Eindruck, dass Cage, Feldman, Wolff, Lucier und die anderen das zentraleuropäische Musikleben am Ende des 20. Jahrhundert viel stärker geprägt haben als das der Vereinigten Staaten. Die musikalische Situation in den Staaten, zumindest in der klassischen Musik und im Jazz, wurde bestimmt von gemäßigteren Stimmen: dem Minimalismus von Glass und Reich, der neo-romantischen Position, die die Mehrheit der akademischen Komponisten eingenommen hatte. Im Jazz wurde diese Tendenz verkörpert durch Wynton Marsalis (gleichzeitig gab es einen offensichtlichen Mangel an Impulsen im Free Jazz; auch gab es kaum improvisierte Musik von Bedeutung). Mein Freund, der Musikwissenschaftler Volker Straebel, nannte diese Periode “der Tod der amerikanischen Avantgarde” – und genauso habe ich es empfunden.
 
Dahingegen war Europa im Allgemeinen, und Deutschland im Besonderen, mit seinen großen Ressourcen für Kultur (sogar marginale Unternehmungen wie Wandelweiser können unterstützt werden), ein fruchtbarerer Boden.

 
Es gab in Deutschland zwei Zentren der Wandelweiseraktivität. Antoine, Kunsu, Marcus, André, Eva-Maria, der Schlagzeuger Tobias Liebezeit, der Pianist John McAlpine, der bildende Künstler Mauser, eine Zeit lang auch Carlo, seine Frau Normisa Pereira da Silva und Radu lebten alle im Köln-Düsseldorfer Raum. Thomas Stiegler war nicht so weit weg, in Frankfurt. Antoine leitete seit 1994 eine regelmäßige Konzertreihe im Kunstraum in Düsseldorf. Zahllose Wandelweiserkonzerte fanden dort statt (die Liste selbst wäre schon irgendwie ein Stück – einfach nur zu sehen, wie sich die Titel über die Jahre änderten, ist schon interessant, wenigstens für mich). Es gab immer irgendwie gerade genug Geld um Musiker zusammen zu bringen und so wurde dieser Ort für viele von uns wie ein zweites musikalisches Zuhause. (Ich muss nur meine Augen schließen um den Klang der Räume mit dem Widerhall von Jürg Frey’s Klarinette zu hören …)
 

Der Künstler Mauser (später mehr über ihn) hatte sein Atelier im nahe gelegenen Köln und auch dort haben in den ersten zehn Jahren viele Aufführungen und Veranstaltungen stattgefunden. Es war ein sehr schlichter, ziemlich geräumiger und äußerst wohltuender Atelierraum im Innenhof eines Mehrfamilienhauses in einem relativ ruhigen Teil der Stadt. Hier fanden zum ersten Mal die von Mauser und Antoine konzipierten Ganztagskonzerte (Ein Tag) statt. Ein Zeit lang waren dies alljährliche – unglaubliche – Ereignisse, bei denen entweder sehr lange einzelnen Stücke oder mehrere kürzere Stücke ausgeführt wurden. Dazu kamen zeitbezogene Arbeiten in anderen Medien: Performances, Installationen, Video, Tanz usw. Viele Besucher kamen für ein paar Stunden, sahen sich die Aufführung an und entspannten sich mit Kaffee und Kuchen im Patio unter der Laube. Andere verfolgten fast die ganze Zeit die Aufführung, auch wenn darin oft sehr wenig passierte. Obwohl ich nur gelegentlich an diesen Veranstaltungen habe teilnehmen können, gehören sie zweifellos zu meinen einprägsamsten künstlerischen Erlebnissen.


(Zionskirche, Berlin-Mitte)

Das andere Zentrum war Berlin. In den ersten zehn Jahren war dort das Verlagsbüro, in den Räumlichkeiten von Burkhard‘s Firma. CD‘s (wie Stones) wurden in Burkhard’s Atelier oder in einer alten Kirche nahe seinem Haus auf dem Land, in Hohenferchesar, einige Stunden von Berlin entfernt, aufgenommen. Auch Makiko Nishikaze, Chico Mello und Klaus Lang (damals noch Mitglieder) lebten wenigstens ein Teil des Jahres in Berlin. Ich war nicht weit von Berlin entfernt, als ich 1998/1999 im Rahmen eines Aufenthaltsstipendiums fast ein Jahr im niedersächsischen Künstlerhof Schreyahn verbrachte. Der Musikwissenschaftler Volker Straebel, ein enger Freund mehrerer Wandelweiserkomponisten, lebt in Berlin. Ende 1996 zog auch Carlo nach Berlin um. Dort schuf er, zusammen mit dem bildenden Künstler Christoph Nicolaus, eine der „grundlegenden“ Wandelweisersituationen. Dieses Projekt, 3 jahre – 156 musikalische ereignisse – eine skulptur,  spielte sich auf der Orgelempore der Zionskirche ab (in Berlin-Mitte, direkt gegenüber der Wohnung, in der Carlo, Normisa mit ihrem Sohn Matheo lebten – und noch leben). Jeden Dienstagabend um Punkt 19.30 Uhr wurde, über einen Zeitraum von drei Jahren, ein neues zehnminütiges Solostück uraufgeführt (und wurden zwei der 96 Steinteile aus Christoph Nicolaus’ Bodenskulptur vertauscht  – die Skulptur bestand aus Bohrkernen unterschiedlicher Länge, ausgelegt auf dem alten Holzboden der Empore). Einige Freunde von außerhalb der Gruppe schrieben Werke für dieses Projekt (darunter Peter Ablinger und Wolfgang von Schweinitz). Die überwältigende Mehrheit der neuen Stücke wurde aber von Wandelweiserkomponisten beigesteuert.
 
Wenn man im Wandelweiserkatalog irgendein zehnminütiges Stück findet, das zwischen 1997 und 1999 entstanden ist, kann man fast sicher sein, dass es für dieses Projekt geschrieben wurde.
 
Über die drei Jahre kamen insgesamt sicher tausende Menschen zu den Konzerten  und viele von ihnen machten hier ihre ersten Erfahrungen mit dieser Musik. Peter Ablinger hat mir einmal beschrieben, wie viel Vergnügen es ihm bereitete, eine Stunde mit der U-Bahn zu fahren um einem zehnminütigen Konzert beizuwohnen (und sich danach noch im Café zu treffen – wo sich oft lange Gespräche ergaben).

Wie dem auch sei, sogar in Deutschland mussten wir mit minimalsten Mitteln auskommen. Die CD’s und die Aufführungen kamen (bis auf die ersten) alle nur zustande, weil einzelne Leute aus der Gruppe immer wieder eine Möglichkeit fanden, etwas zu organisieren. Ein freier Raum in der Nähe; ein paar begeisterte Interpreten; ein kleines Stipendium: also nichts, dass auch nur annähernd mit der Finanzierung eines durchschnittlichen Festivals zu vergleichen wäre, reichte aus um mehrere randvolle Wandelweiserveranstaltungen auf die Beine zu stellen. (Ein typisches Beispiel: eine Woche in Düsseldorf mit allabendlich einem und am Samstag und Sonntag je zwei Konzerten – mit neuen Stücken, die vor Ort in verschiedenen Besetzungen erarbeitet wurden.)

Wenn ich an all diese Ereignisse, die über die Jahre stattgefunden haben, zurückdenke (es waren sicher hunderte, mit sicherlich an die tausend ausgeführten Werken), bin ich verblüfft, wie viel man tun konnte (und immer noch kann) mit wenig oder keinem Geld und relativ wenig Öffentlichkeit.



Verschiedene Ästhetiken unter einem Dach
 

An dieser Stelle ist es, denke ich, wichtig festzuhalten, dass Wandelweiser, meiner Ansicht nach, keine einheitliche ästhetische Position verkörpert. Zwar scheint es von außen gesehen einige gemeinsame Merkmale zu geben, wie etwa das Interesse an Stille, Dauer und an die radikale Erweiterung der Ideen von Cage und der sich daraus ergebenden Arbeit. Vor vierzehn Jahren trafen diese Begriffe in der Tat auf einen Großteil unserer Musik zu – aber sogar damals gab es viele unterschiedliche Ideen über das Wohin dieser Musik und auch erhebliche Unterschiede i Geschmack oder philosophischen Hintergrund.
 
 
Hier ist aus meiner Erinnerung eine Liste von Themen, die in den ersten Jahren in unseren  Gesprächen auftauchten (und an dieser Liste sieht man schon, wie vielfältig die Einflüsse und die Voraussetzungen waren):
 
 
• Es gab viele verschiedene Ideen darüber, welche von Cage’s Cage die Wichtigsten waren. Nicht nur 4’33”, sondern auch die “number pieces” (die Zahlenstücke), 0’00”, Roaratorio, Music for __, die Variations, Empty Words, Cheap Imitation, das String Quartet (in Four Parts). Es ging dabei nicht nur um die Bedeutung der Stille, sondern um die Beziehung zwischen Stille und Geräusch (“das Rauschen der Welt”) und um die Funktion des Klanges, des Tons innerhalb dieses Kontinuums. Beuger’s wichtiger Aufsatz Grundsätzliche Entscheidungen (1997) setzt sich genau mit diesen Fragen auseinander.


 (Christian Wolff)

 • Die Musik von Christian Wolff hat viele von uns geprägt. Bei einem Treffen in Boswil in 1991 war Christian mit Antoine Beuger, Jürg Frey und Chico Mello zusammengetroffen (auch Jakob Ullmann, Urs Peter Schneider, Ernstalbrecht Stiebler und Dieter Schnebel waren da und Manfred Werder saß bei einer der Aufführungen im Publikum.) Wolff hat unsere Musik immer sehr unterstützt und viele von uns haben eng mit ihm zusammengearbeitet (an seiner und unserer Musik). Viele seiner Stücke versuchen ausdrücklich die schöpferische Energie der Aufführungssituation ins Spiel zu bringen. Christian war eng befreundet mit Cornelius Cardew, hat mit dem Scratch Orchestra gearbeitet und mit AMM gespielt – aber seine Musik hatte schon ganz früh diesen Charakter, etwa in For 1, 2 or 3 People (1964). Was in diesem Stück passiert, würde ich nicht als Improvisation bezeichnen, aber es erfordert Momententscheidungen, die Menschen mit Improvisationserfahrung sofort erkennen würden. Im Kern geht es um ein Verständnis von Komposition als Zwischenstation (und nicht: Endstation) im Prozess des Musikschaffens. Dieser Punkt trifft, denke ich, eigentlich mehr auf Wolff’s Musik (die dem auf viele verschiedenen Weisen nachgeht) als auf Cage’s Musik zu. Für viele von uns (für alle?) waren Wolff und seine Musik eine wesentlichere Inspirationsquelle als Feldman. (Was nicht heißt, dass Feldman’s Musik nicht schön oder bedeutsam für einige von uns ist – sie ist es ohne Zweifel.)
 
 
• Es bestand vom Anfang an, und immer noch, eine große Neugierde auf die Tiefe und die Weite der experimentellen Tradition (nicht nur der amerikanischen), besonders in ihrer radikalsten und verborgensten Ausprägungen. Antoine hat eine besondere Gabe, solche kaum bekannten, radikalen Werke aufzuspüren. Durch ihn lernte ich, zum Beispiel, Tomasz Sikorski, Michael von Biel, Maria Eichhorn, Robert Lax, Alain Badiou und sogar Douglas Huebler kennen – und die Liste könnte noch lange weitergehen. Dank Antoine wurde neulich bei einer Wandelweiserveranstaltung Terry Jennings’ Piano Piece (1960) ausgeführt und es schien zwischen unseren Stücken richtig zuhause zu sein. Bei einem Konzert in Neufelden (bei Linz) in diesem Sommer spielte das Wandelweiser Komponisten Ensemble Toshi Ichiyanagi’s Sapporo (1962) und es fühlte sich fast so an, als wäre es für uns geschrieben.
 
 
• Gelegentlich (aber immer wieder) gab es Diskussionen über die verschiedenen Entwicklungen im Jazz und in der improvisierten Musik der vergangenen 30 Jahren. Dies war wichtig wegen den vielen Überschneidungen, die es gibt zwischen Improvisation und Unbestimmtheit. Radu, der in seiner Entwicklung den ganzen Weg von Jack Teagarden bis Paul Rutherford und darüber hinaus zurückgelegt hatte, konnte natürlich viel Erfahrung und einen reflektierten Standpunkt in diese Gesprächen einbringen. Aber auch für mich selbst, aufgewachsen in Chicago, wo ich Jazzgitarre spielte und so oft die verschiedenen Besetzungen des AACM gehört hatte, war dieses Thema besonders bedeutsam. Anfänglich hatten wir nicht den Eindruck, dass das, was wir taten, viel mit dem, was sich in der improvisierten Musik abspielte, zu tun hatte. Das kam erst später.
 
 
• Die Bedeutung der deutschen Avantgarde war uns klar: vor allem Helmut Lachenmann (bei dem Kunsu studiert hat) und Matthias Spahlinger (bei dem Thomas Stiegler studiert hat). Von Anfang an wurde unser Denken über Instrumente und den Umgang mit Klang, besonders mit instrumentalen Geräuschen, hörbar von diesen bedeutenden Figuren beeinflusst.
 
Gleichsam als Ausgleich gab es ein Interesse an den verschiedensten kleinen, merkwürdigen Sachen: Kunst und Musik von Mitgliedern  der Fluxusbewegung, ungewöhnliche Dichtung (Hans Faverey, Robert Creeley, Fernando Pessoa), das Werk der Guggingkünstler und -dichter (allen voran Oswald Tschirtner) oder, in meinem eigenen Fall, amerikanische Volksmusik der zwanziger und dreißiger Jahre (das Gebiet von Harry Smith).
 
Für mich kamen all diese exzentrischen Strömungen zusammen in dem einzigartigen dichterischen Werk des italienisch-österreichischen Dichters Oswald Egger (den Antoine durch den Verleger Thomas Howeg aus Zürich kennengelernt hatte).

(Gilles Deleuze)

• Über die Jahre hatten wir viele Gespräche über grundsätzliche Themen des Musikschaffens. Weil manche Ideen in den Stücken versuchen, auf ihre Weise, zum Kern einer bestimmten musikalischen Situation vorzudringen, war es manchmal  sinnvoll, Gedanken „von außen“ zu Hilfe zu nehmen. Wie Gilles Deleuze gezeigt hat, war die Philosophie in den vergangenen drei Jahrtausenden die Hauptquelle für neue Begriffe. (Die Wissenschaft und Mathematik schaffen nach seiner Auffassung “Funktionen”, die Kunst “Perzepte” – Wahrnehmungsgegenstände für die Sinne.)

Wir sind zwar alle keine professionellen Philosophen (vielmehr sind wir nichtprofessionelle Philosophieleser), dennoch lässt sich jeder von uns von philosophischen Werken inspirieren. Es ist schwer darüber ausführlich zu sprechen ohne anmaßend zu klingen. Deshalb werde ich das auch nicht tun. Es nicht zu erwähnen, wäre aber ebenso falsch – es ist ein wichtiger Bestandteil der Wandelweiseratmosphäre.

Der konzeptionelle Hintergrund ist in vielem, woran wir gemeinsam gearbeitet haben, spürbar (wiederum vor allem am Anfang). Ich denke, dass dies teilweise erklärt, warum in bestimmten Phasen  so unglaublich fokussiert an einem ganz bestimmten kompositorischen Problem gearbeitet wurde.
 
 
Eine Zeit lang – etwa in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre – haben mehrere von uns sich intensiv mit Solostücken beschäftigt. Dahinter steht, glaube ich, das Interesse an der Zahl 1. Es entstanden viele, sehr unterschiedliche Stücke: manche erforschten die Dauereinheit in einer regelmäßigen Zeitstruktur (first music for marcia hafif, stück 1998, für sich), andere das Alleinsein (tout à fait solitaire), die klanglichen Gegebenheiten eines Instruments (die geschichte des sandkorns, kammerkomplex, mind is moving, die temperatur der bedeutung), die Ausdehnung grenzenloser Zeit (calme étendue, ein(e) ausführende(r)) oder das Verschwinden der Zeit in der Wahrnehmung überhaupt (ins ungebundene, a certain species of eternity) – um nur einige der vielen Werke zu nennen. Eines ist mir bei dieser Arbeit besonders aufgefallen, nämlich die spürbare Präsenz des Spielers, wenn er nicht spielt. So etwas kann eine Aufnahme nie vermitteln – die Kontinuität von Klang und Stille wird von einer einzelnen Person getragen, deren einmalige Präsenz wichtiger ist als alles, was auf dem Papier geschrieben steht.

Irgendwann ging es dann mehr um das Duo (bzw. die “Zweiheit”), anfänglich vor allem bei Jürg Frey, später besonders bei Antoine Beuger. Wenn man diese Stücke betrachtet, wird einem klar, dass zwischen 1 und 2, musikalisch gesprochen, Welten liegen. Man kommt kaum darum herum, dass “zwei” in der Musik immer zumindest Beziehung beinhaltet – wenn nicht Liebe (Lovaty, zwischen, dedekind duos, 2 ausführende, and two/too.)

 

Das wichtigste Gespräch

Bei den Proben findet sehr viel Austausch statt. Wir alle wenden viel Zeit auf um die Musik voneinander kennenzulernen, indem wir sie spielen. Das Wandelweiser Komponisten Ensemble ist eine Gruppe von sehr engagierten und wohlwollenden Ausführenden, die gleichwohl ihre je eigene Art zu spielen und zu denken mitbringen. Man schreibt für bestimmte Personen, weniger für bestimmte Instrumente. Wenn Antoine, Jürg, Radu, Manfred oder Marcus eine meiner Kompositionen spielen, weiß ich, dass ihre musikalischen Charaktere das Werk durchdringen werden. Und ich weiß, dass ihre Weise, es zu spielen, mir Dinge über mein eigenes Stück offenbaren werden, auf die ich ohne sie nicht gekommen wäre. Sogar die Stücke, die am einfachsten aussehen, bekommen ein zweites Leben, wenn man sich klar macht, was mit ihnen in den Händen von Freunden passierte.

Wie Jürg Frey einmal sagte: die wichtigsten Gespräche finden nicht in Worten statt, sondern in der Musik selbst, von Stück zu Stück; wenn eine Person mit dem gleichen Material, das eine andere auch benutzt hat, einen ganz anderen Weg geht. So gesehen, sieht man die Energien, die in dieser Gruppe von Musikern am Werk sind, erst, wenn man in die einzelnen Stücke eindringt: dann werden Begriffe wie „ähnlich“ und „unterschiedlich“ ersetzt durch viel komplexere (und interessantere) Kurven und Spannungen.


(Radu Malfatti, Mattin)

Radu hat zu mir einmal das Zusammenkommen, die Gemeinsamkeit und die Unterschiede glänzend auf den Punkt gebracht:

Ich denke, dass diese Sachen [i.e., die Ideen über was wir taten] sowieso da sind und dass “schöpferische“ Menschen einfach diejenige sind, die sie früher als andere aufnehmen, oder hören oder spüren. In Bezug auf Wandelweiser: wer hat angefangen? Wer hat es „übernommen“? Ich denke, dass wir alle anfingen, uns für ähnliche Sachen zu interessieren, auch wenn wir aus verschiedenen Ecken und Richtungen kamen, und dass wir uns deshalb begegnet sind und zusammengekommen sind und sofort ein gegenseitiges Verständnis gespürt haben.

 

Ein Flussdelta

Mit diesem Bild kann ich am besten beschreiben, was geschah als Ergebnis von all diesen Gesprächen über die Jahre, da sich unsere Arbeit entwickelte. Was anfänglich wie ein einzelnes kleines Rinnsal aussah, hat sich als in vielen verschiedenen Richtungen entwicklungsfähig erwiesen. Erst fand ich Freude daran, dass ich nie genau sagen konnte, wessen Stück ich gerade hörte. Die Ähnlichkeiten und das Gefühl einer wirklich gemeinsamen Sprache waren aufregend und inspirierend. Jetzt finde ich es schön, unterscheiden zu können, wessen Stück es ist – auch wenn es immer noch zum gleichen Strom gehört.

 

Kunst

Antoine hat mich bekannt gemacht mit der monochromen Malerei von Marcia Hafif, einer amerikanischen Künstlerin. Die Idee hinter dieser Arbeit war, dass “eine” Art von Material (in diesem Fall eine Farbe) in sich schon mehrfach ist. Abstrakt gesehen ist es eine Farbe, in Wirklichkeit aber gibt es, wenn die Farbe von Hand auf die Leinwand aufgetragen wird, viele winzige Variationen in Ton und Textur. Die Tatsache, dass die Beschreibung einfach, die Wirklichkeit jedoch komplex war, traf nicht auf taube Ohren! Es ist interessant, wie aufschlussreich die Wahl eines Lieblingskünstlers sein kann. Jürg Frey liebt die Stillleben von Giorgio Morandi: und dadurch konnte man in seinem Werk die subtilen, vorsichtigen, endlosen Verschiebungen des gleichen Grundmaterials erkennen – jedes Mal gerade neu genug um einen zu fesseln und tiefer bewusst werden zu lassen, wie viele Ausdrucksmöglichkeiten man mit begrenzten Mitteln hat. Es wird niemanden überraschen, dass Manfred Werder fasziniert ist von Konzeptkünstlern. Ich erinnere mich, wie er Lucy Lippard’s Six Years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972 wie einen Krimi las. Carlo Inderhees wurde beeinflusst von der Arbeit von On Kawara. (Macht Sinn, oder?) Obwohl ich alle diese Künstler liebe, sprechen mich in letzter Zeit besonders James Turrell, Juan Muñoz und einige Installationen von Sarah Sze an. Als dieser Austausch anfing, hatte ich den Eindruck, dass im Bereich der bildenden Kunst vieles passiert war, das keine Parallele hatte in der Entwicklung der Musik (Carl Andre, Donald Judd, Sol LeWitt, Dan Flavin, Agnes Martin, usw.). Vielleicht hat sich da inzwischen etwas geändert, bei all den interessanten Entwicklungen in der experimentellen Musik in den letzten 15 Jahren.
 
 
Ganz wichtig für die Gruppe sind ein Künstler-Musiker und zwei großartige bildende Künstler.
 
 (Mauser, Performance)

Mauser stellte sich Antoine nach einem Cage-Konzert in Köln Anfang der neunziger Jahre vor. Seine Arbeit, die sich beständig weiterentwickelte bis zu seinem Tod im Jahre 2006, war ein wichtiger Teil des Wandelweiserumfeldes. Als ich Mauser’s Atelier 1995 zum ersten Mal betrat, dachte ich erst, dass es dort überhaupt keine Kunst gab. Wir setzten uns und redeten miteinander. Als sich dann der Winkel der Sonne änderte, bemerkte ich auf einmal einige sehr helle, irgendwie leuchtende Quadrate an den Wänden. Irgendwann wurde mir klar, dass das nicht bloß Lichteffekte waren, sondern Kunstwerke: feinstes durchsichtiges Papier war an der Wand befestigt. Das Papier reflektierte das Licht mehr oder weniger stark, je nachdem aus welchem Winkel das Licht auf es strahlte. Gibt es etwas noch Einfacheres? Aber nichts ist so einfach, wie es aussieht. Es war zauberhaft, wie die Kunst erschien und verschwand; sie schien ihr ganze eigene, unbestimmte Dauer zu haben. Jahrzehnte harter Arbeit, voller Unsicherheit, waren dieser Lösung vorausgegangen, die von großer konzeptueller Klarheit und gleichzeitig unglaublich sinnlich war (die Augen nahmen alles auf, bevor das Gehirn zu arbeiten anfing). Für manche von uns wurde diese Kunst ein Leitbild für unsere musikalische Arbeit.


(Christoph Nicolaus, Sonnenzeichnungen)

Der Künstler Christoph Nicolaus ist mit mehreren von uns fast vom Anfang an eng befreundet. Christoph macht Verschiedenes: Zeichnung, Photographie, Video und andere Medien. Seine Arbeit hat oft mit Zeit und Dauer zu tun: er sammelt täglich einen Wassertropfen aus unterschiedlichen Gewässern und bewahrt sie in Gläsern auf (wo sie wunderschöne “Verdunstungswolken” bilden); er fotografiert jährlich zur gleichen Zeit denselben Ort (im Frühling, Sommer, Herbst und Winter); er macht täglich eine Zeichnung mit Hilfe der Sonne und einer Lupe, indem er ganz nah aneinander eine Reihe von geraden Linien in das Papier brennt (dunkelbraune Bilder, die trotzdem die Leuchtkraft der Sonne festhalten). In seiner fortlaufenden Serie Garonne, macht er Videos von Flüssen (mittlerweile hat er dafür schon einen Großteil der Welt bereist), nach einem ganz einfachen Prinzip: er findet eine Brücke und filmt von dieser Brücke hinunter, an beiden Seiten, mit Autofokus, solange die Batterie läuft (so entstehen etwa einstündige Videos, je zwei pro Fluss, eins in dem das Wasser auf dem Monitor von oben nach unten fließt, eins in dem es von unten nach oben fließt). In einer Installation werden 2 bis 6 Flüsse nebeneinander gezeigt, nach dem Zufallsprinzip aus dem Stapel ausgewählt. Die Unterschiede sind verblüffend: die Farben (alle möglichen Schattierungen von grün, braun, schwarz, orange und blau), die Art des Fließens, der Wind und das Wetter, der Schutt, der mit schwimmt – man würde nie denken, wie einzigartig jeder Fluss sich darbietet. Eine meiner favoriten Wandelweiserveranstaltungen war eine Ausstellung dieser Videos in Berlin, 1998, simultan mit Carlo`s Stück für Violoncello solo für sich. Carlo’s Musik und Christoph’s Videos waren vollkommen miteinander im Einklang – etwas, was “Multimedia“-Kunst oft anstrebt, aber selten erreicht. Nicolaus hat eine sehr schöne Sammlung von Mauserarbeiten in seiner geräumigen Wohnung in München installiert und veranstaltet dort monatlich ein Konzert unter dem Titel Klang im Turm. Es ist inzwischen einer der zentralen Orte für Wandelweiserereignisse.

(Marcus Kaiser, Opernfraktal)

Marcus Kaiser ist das wohl am wenigsten einzuordnenden Mitglied der Wandelweisergruppe. Er ist Cellist-Maler-Architekt-Komponist-Entwerfer- Klangkünstler-Videokünstler. Marcus jongliert nicht mit diesen Aktivitäten – er arbeitet simultan an allen gleichzeitig, als wären sie Teil einer riesigen rhizomatischen Assemblage. Er malt Regenwälder so wie diese wachsen: viele grüne Schichten übereinander bis es fast ein monochromes Bild ist. Er schichtet Klangaufnahmen übereinander, die an verschiedenen Zeiten und Orten entstehen, bis sie fast einen Sättigungspunkt erreichen (in dem allerdings immer noch klangliche Eigenheiten erkennbar bleiben). Er entwirft Tische als Arbeitsplätze für einen Gemeinschaftsraum. Seine Arbeit ist sehr weitläufig, aber nicht monumental. mutig, aber freundlich und bescheiden präsentiert. (Zwei sehr persönliche Eigenschaften , die jeder, der Marcus kennt, sofort erkennen wird.)


Mildes Wetter / ferner Donner (Wandelweiserveranstaltungen)

Obwohl es über die Jahre Wandelweiserveranstaltungen an vielen verschiedenen Orten gegeben hat, mit unterschiedlichen Konzeptionen und organisiert von unterschiedlichen Personen, gibt es doch einige Konstanten: sehr viel Musik; viele Gespräche; das Gefühl einer wohlwollenden Freundschaftlichkeit und Gemeinschaft.
 
 
Eine starke Reaktion von jemandem anderen (“Ich mochte das / mochte das überhaupt nicht, und zwar weil …”) kann helfen das eigene Denken zu klären. Nach meiner Erfahrung aber fanden die Interaktionen bei Wandelweiserveranstaltungen meistens in einer Atmosphäre gegenseitiger Unterstützung statt – in der es einfach eine Gegebenheit ist, dass man weiterhin zueinander steht und sich gegenseitig hilft, auch bei ästhetischen Differenzen.
 
Antoine, der in Düsseldorf mehr groß angelegte Wandelweiserveranstaltungen organisiert hat als jeder andere von uns, hat seinen Standpunkt diesbezüglich immer besonders deutlich vertreten (und er ist selber ein gutes Beispiel für diese Haltung): Menschen sollten sich nicht „verletzt“ fühlen, wenn sie ihre Arbeit oder ihre Ideen zeigen. Kritik gibt es, aber für mich stand sie bei diesen Treffen immer sehr weit unten auf der Tagesordnung. Wenn man so eng miteinander befreundet ist, weiß man normalerweise ohnehin, was die anderen denken - auch über das, was man selber macht. Langfristig kommen die Sympathien und die Differenzen zum Ausdruck in den Werken selbst (als wären die einzelnen Werke Teil eines größeren Bildes). Ab Mitte der neunziger Jahre, zum Beispiel, konnte man von Stück zu Stück, von Komponist zu Komponist, den Einsatz von zwei (oder mehr) großen Trommeln verfolgen: Ohne Titel (für Agnes Martin) (Frey, 1994/95), fourth music for marcia hafif no. 3 (Beuger, 1997), time, presence, movement / one sound (Pisaro, 1997) – in Malfatti’s l'effaçage (2001) waren es schließlich vier. Wenn man diese vier scheinbar ähnlichen Stücke genauer betrachtet, stellt man viele feine, aber wesentliche Unterschiede in der Herangehensweise fest. Obwohl jedes Stück für sich existiert, spielt sich zwischen ihnen ein (wortloses) Gespräch ab. Es gibt viele solche Gespräche im Wandelweiserkatalog.
 
 
Dies alles heißt nicht, dass markante Ereignisse vermieden werden – ganz im Gegenteil. Aber solche Schocks werden normalerweise durch die Werke selbst hervorgerufen. Einige solche Erlebnisse wären, zum Beispiel: das erste Mal, dass ich Beuger’s neunstündige Komposition calme étendue hörte; der endlose (und gelegentlich urkomische) Strom von schweizerischen Vogel- und Flurnamen in Jürg Frey’s Lovaty; die Art, wie die Dichte von Marcus Kaiser’s unglaubliche Urwaldbilder sein Cellospiel durchdringt; das radikale Nebeneinander von Kontrolle und Freiheit in Radu’s Düsseldorf Vielfaches; die 15-sekündige Zusammenfassung eines Orchestererlebnisses in Manfred Werder’s 2008-1 (um nur die ersten fünf zu erwähnen die mir einfallen),  haben mich als Künstler mehr erschüttert als scharfe Worte es je tun könnten. Diese Ereignisse beschäftigen mich noch immer. (Mit meinem zweiwöchentlichen Sommerfestival the dog star orchestra versuche ich auf meine Weise eine Art  nordamerikanische / Westcoast Parallele zu diesen Konzerttreffen zu finden.)

Über die kreativen Impulse, die diese Gespräche und dieser Ideenaustausch brachten, hinaus war da vor allem die Freude an so vielen wunderbaren Musikaufführungen. Wir alle hatten das Glück, außer mit den Mitgliedern des Wandelweiser Komponisten Ensemble, mit Interpreten arbeiten zu können, deren Engagement für die Musik und für uns Komponisten sicherlich mit verantwortlich ist für die Kontinuität unserer Arbeit.
 

(v.r.n.l.: John McAlpine, Michael Pisaro, Eva-Maria Houben)


Ich ziehe meinen Hut für eine besondere Gruppe von Musikern, die uns viele Jahre die Treue gehalten haben in einer Atmosphäre der Freundschaft und der Großzügigkeit: der Pianist John McAlpine, der Schlagzeuger Tobias Liebezeit, die Oboistin Kathryn Pisaro, die Sprecherin Sandra Schimag, der Akkordeonist Edwin Alexander Buchholz, das Bozzini Quartett (Clemens Merkel, Nadia Francavilla und Isabelle und Stéphanie Bozzini), die Bratschistin Julia Eckhardt (Mitglied der Projekte Q-O2 und Incidental Music), die Flötistin Normisa Pereira da Silva, der Cellist Stefan Thut, der Schlagzeuger Greg Stuart, die Pianistin Jongah Yoon, der Pianist Guy Vandromme und der Saxophonist Ulrich Krieger. Ich kann mir unsere Musik ohne die schöpferische Beteiligung dieser Menschen nicht vorstellen.
 
 
 
Einiges über Komposition (Konzepte, Strukturen, Klänge)

Nennen wir ein musikalisches Konzept: eine Idee oder ein Gedanke über Musik in einiger Entfernung der Verkörperung der Sache selbst.

Eine ausgeschriebene Komposition enthält in diesem Sinne ein Konzept, eine Idee, wie eine bestimmte Musik gemacht werden sollte. (In diesem Sinne ist jede geschriebene Musik konzeptionell.)
 
 
In einer Komposition könnte ein einfaches, klares Konzept einem großen, allumfassenden Konzept vorgezogen werden. (Wenn man so denkt, ist ein Stück, das einfach das zufällige Zusammentreffen oder Nichtzusammentreffen zweier Spieler aufgreift, vorzuziehen über eins, das sich anschickt, Instrumentation neu zu definieren.)

In einer Sammlung einfacher, klarer Konzepte findet man mehr Vielfalt als in einer Sammlung allumfassender Konzepte.

Einfache Konzepte können manchmal zu überraschenden Ergebnissen führen: Ergebnisse, die das Wahrnehmungsvermögen auf einer bestimmten Ebene ausprobieren und sich dieses Versuches bewusst sind. Eine Art, Klang zu genießen, ist mit dem Versuch verbunden, die Klangsituation, die durch die Komposition ausgelöst wird, geistig zu erfassen (bzw. richtig zu hören).

Die musikalische Situation bekommt ihre Struktur teilweise durch die Komposition; aber nicht alles geht auf die Komposition zurück. Im geschriebenen Werk kann etwas über die Zeit oder den Klang oder den Spieler oder das Instrument (oder über sie alle) gesagt werden, aber man muss sich immer im Klaren sein, dass ein Großteil der klanglichen Wirklichkeit, wenn nicht das Ganze, in der Situation selber entstehen wird.

Die Ausführenden eines Werkes sind in der Lage, das Konzept und die Struktur, die die Komposition bereitstellt, im Kopf zu haben und gleichzeitig aktive Entscheidungen zu treffen.

Wenn es um Musik geht, gibt es keine eindeutige und logische Weise, den einzelnen Handelnden einen Prozentsatz der schöpferischen Verantwortung zuzuschreiben. Die Musik entsteht als Ergebnis einer ganzen Menge von Umständen, fast als ob sie, einmal in Gang gesetzt, selber handelt und denkt.

Der hier beschriebene Prozess ist unabhängig von konventionellen Vorstellungen über was gut klingt und was nicht, was einfach oder schwer zu verstehen ist, oder was einfach oder schwer zu hören ist.

Im besten Fall wird die Oberfläche der Musik (d.h. das klingende Ergebnis) spannend genug sein um den Zuhörer in die Welt des Stückes hineinzuziehen. Innerhalb dieser Welt spielen sich dann die entscheidenden künstlerischen Ereignisse (die Momente, die unser Hören und Verstehen ändern können) ab.

Es ist nichts auszusetzen an einer schönen Oberfläche, ruhig und gelassen, auch wenn sie eine musikalische Umwälzung in sich birgt.



 (v.r.n.l.: Christian Wolff, Jürg Frey, Antoine Beuger)


Wo stehen wir jetzt?

Über die Jahre hat sich das Netzwerk von Leuten, die mit Wandelweiser verbunden sind, erweitert. Die regelmäßigen Konzerte in Aarau, Düsseldorf, München, Zürich, und Los Angeles, wie auch die mehr oder weniger regelmäßigen in New York, Berlin, London, Wien, Chicago und Tokyo haben viel dazu beigetragen, Menschen auf diese Musik aufmerksam zu machen und sie dafür zu interessieren. Da stetig neue Werke geschrieben und ausgeführt werden, sind die Konzerte noch immer unsere wichtigste Aktivität – zumal in Konzerten viel mehr dargeboten werden kann, als wir je aufnehmen und auf CD herausbringen könnten.

Es ist inzwischen wahrscheinlich klar, dass die Offenheit vieler dieser Stücke für Umweltklänge, ihre oftmals sehr ausgedehnte Dauer und die häufige Verwendung von Unbestimmtheit dazu führen, dass es eine “Wiederholung” in den meisten Fällen gar nicht geben kann: die zweite Aufführung eines Stückes (in einen neuen Kontext oder mit anderen Ausführenden) kann wie eine neue Uraufführung sein. So finden wir nach all diesen Jahren noch immer viele Gründe, die Werke voneinander zu spielen, mehr noch, für sie einzustehen  (was heutzutage etwas sehr Ungewöhnliches ist – zumindest in dem Umfeld der zeitgenössischen Musik, in der ich aufgewachsen bin, gab es so etwas kaum).

Inzwischen, gibt es, hauptsächlich durch persönlichen Kontakt oder durch die Mitwirkung bei Aufführungen, eine ganze Menge Musiker einer jüngeren Generation, die Wandelweiser als eine ihrer Ansatzpunkte genommen haben. Da Einfluss etwas schwer zu fassendes ist, kann man nicht gut sagen, wo eine Liste dieser Musiker anfangen oder enden sollte. Wahrscheinlich kann man es am besten so ausdrücken, dass für eine Gruppe jüngerer Musiker die Musik von Wandelweiser ein Bestandteil der Atmosphäre der experimentellen Musik ist, in der sie zu atmen gelernt haben.

Unsere neueren CD’s sind, wie die früheren, keine Verlängerung der Konzerte, sondern deren Komplement. Wie schon erwähnt, enthalten viele der interessantesten Wandelweiser  CD’s Sachen, die als solche nie live ausgeführt werden könnten. Antoine Beuger’s too etwa, das zwei unterschiedliche Duo’s, separat aufgenommen in Düsseldorf (Jürg Frey and Irene Kurka) und in Tokyo (Rhodri Davies and Ko Ishikawa) zu einem neuen Stück kombiniert - oder die Duo „field-recording-performance“ CD von Manfred Werder und Stefan Thut (Im Sefinental), benutzen Möglichkeiten, die es in einem Konzertsaal nicht gibt. Auch meine zwei neuesten Wandelweiser-CD’s sind Beispiele dafür: die beiden Realisierungen von an unrhymed chord waren von vorneherein für CD gedacht, und hearing metal 1 definiert sich grundsätzlich als ein Werk „für aufgenommene Schlagzeugklänge“.

In dieser Hinsicht hat die Musik der Wandelweisergruppe einiges gemeinsam mit interessanten Labels wie Erstwhile, Improvised Music From Japan, Slub Music, Hibari, Another Timbre, Manual, Cathnor, Confront, Potlatch und anderen, die sich scheinbar mehr mit improvisierter Musik beschäftigen. Neuere Releases dieser Labels vermischen auch oft Vorstellungen von live und aufgenommenen Mitteln, und verwischen die Grenzen zwischen was spontan erfunden (bzw.improvisiert) und was im Studio komponiert (bzw. zusammengestellt) wurde. Vielleicht ist dieses Gefühl eines gemeinsamen Territoriums einer der Gründe, dass Wandelweiser CD‘s mit Erstwhile Distribution (erstdisc) einen so erfolgreichen amerikanischen Vertrieb gefunden haben.


(Sachiko M)

Kürzlich habe ich angefangen darüber nachzudenken, wie groß die Überlappung dieser scheinbar unterschiedlichen Unternehmungen ist. Es ist heutzutage nicht unüblich für Improvisatoren, bestimmte Aspekte ihrer Performance einzugrenzen oder festzulegen. Man kann die Dauer vorher festlegen (wie Radu das gerne macht), oder mit einem begrenzten Materialvorrat oder einem (scheinbar) eingeschränkten Instrumentarium (wie Sachiko M’s Sinuswellensampler) arbeiten. Oder vielleicht findet sich eine Improvisation in einem Kontext mit komponierten Werken wieder (dies hat AMM lange praktiziert). In letzter Zeit ist es möglich, dass Ensembles, die normalerweise improvisieren, bei Konzerten und Aufnahmen Werke von Sugimoto oder Cage im “Repertoire” haben. Obwohl ich denke, dass man durchaus sagen kann, dass diese verschiedenen musikalischen Strömungen etwas gemeinsam haben, ziehe ich es im Moment vor, nicht zu versuchen , dieses Gemeinsame zu benennen (natürlich auch, weil ich nicht wüsste, wie). Ich habe allerdings stark den Eindruck, dass dieser namenlose Bereich ein enormes Potential hat, sich weiter zu entwickeln.
 
 

Nicht-nationale Musik

Obwohl in Deutschland gegründet, ist Wandelweiser kein nationaler Stil oder Trend. Es war bemerkenswert, dass Menschen aus Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Deutschland, Brasilien, Korea, Japan und den Vereinigten Staaten spürten, dass sie untereinander musikalisch ( und oft auch persönlich) mehr gemeinsam hatten als mit ihren eigenen Landsleuten. Die amerikanische experimentelle Tradition gab es nicht mehr (bzw. gehörte nicht mehr zu unserer Generation) und sie wurde durch etwas Anderes ersetzt. Wie immer man es nennen mag, es beschränkte sich auf keinen Fall auf eine, nationale Denkweise über Musik und Musikmachen. Außerhalb der Länder, in denen die Wandelweisermitglieder leben, gab es in den letzten Jahren einige sehr starke Entwicklungen.
 
 
Seit etwa zehn Jahren gibt es eine rege musikalische Zusammenarbeit zwischen mehreren Wandelweiserkomponisten und einigen experimentellen Musikern in Großbritannien. Meine Frau Kathy und ich hatten 1996 die Gelegenheit, die Londoner Szene ein wenig kennenzulernen. Im Rahmen der Arbeit an ihrer Dissertation über das Scratch Orchestra, hatten wir die Chance John Tilbury, Howard Skempton, Michael Parsons und vielen anderen zu begegnen und mit ihnen zu reden (und in Chicago hörten wir nicht lange danach zum ersten Mal das AMM Ensemble live). Während unseres Aufenthaltes in London, hörte ich über die Musik von Laurence Crane, den ich bei unserer nächsten Englandreise kennenlernen konnte. Kurz darauf kam Manfred Werder in Kontakt mit zwei Komponisten, mit denen Wandelweisermitglieder seitdem oft zusammengearbeitet haben: Tim Parkinson und James Saunders. (Zu dieser Liste würde ich mittlerweile auch die Komponisten Markus Trunk und John Lely hinzufügen, und die Liste wächst schnell.) Wandelweisermitglieder  spielten auf dem Festival INSTAL (Glasgow) in 2008 und in 2009, und auch dies erweiterte den Kontakt zu der lebendigen experimentelle Musik-Szene, die es in England und andernorts gibt.

Radu Malfatti hatte natürlich schon einmal längere Zeit in England gelebt, aber er ist, wie immer, ein besonderer Fall. Seit seiner musikalischen Veränderung, wollten viele seiner Freunde aus dieser früheren Zeit nicht mehr mit ihm reden. Es entwickelten sich aber viele ganz neue Verbindungen mit einer jüngeren Generation – meistens Improvisatoren, in London und Berlin, die ihn als Vorreiter einer neuen Art, Musik zu machen, sahen. (Es gibt einfach viel zu viele Namen, die ich hier erwähnen müsste!)

 

Die Verbindung zu Tokyo

Zu guter Letzt möchte ich noch gerne etwas sagen über die Beziehung, die sich in den letzten Jahren zwischen Wandelweiser und einigen Musikern aus Tokyo entwickelt hat.

Im Nachhinein kommen einem manche dieser Kontakte irgendwie unvermeidlich vor. Zum Beispiel, Toshiya Tsunoda’s sehr eigene Form des Fieldrecordings (als wolle er die Finger von den Klängen lassen), die sich schon in seinen sehr schönen Aufnahmen aus 1997 abzeichnet — für mich so etwas wie Daueraufnahmen von Stille —, waren von unserer Art zu denken nicht weit entfernt. Hätten wir ihn damals gekannt, hätten wir das sicherlich sofort bemerkt.

 (Taku Sugimoto, Radu Malfatti)

Taku Sugimoto suchte Juli 2000 zum ersten Mal Kontakt zu Radu Malfatti. Damals sah es  vielleicht so aus, als käme das aus heiterem Himmel, aber wenn man sich einen Augenblick ansieht, welche Musik spätestens seit Mitte der neunziger Jahre aus Tokyo kam, spürt man, dass auch dort etwas sehr Radikales im Gange war, etwas, das zu tun hatte mit der grundsätzlichen Beschaffenheit von Klang und Stille. Die Welt von Opposite ist nicht so weit weg von Beinhaltung, die von The World Turned Upside Down nicht so weit von Dach. Auf jeden Fall haben diese zwei großartigen Musiker sich sofort verstanden, wie ihre Gemeinschaftsarbeiten (etwa Futatsu) hinreichend belegen.

Als Taku Unami 2004 begann, Wandelweiser-CD’s durch seine Firma Hibari zu vertreiben, wurde diese Musik viel mehr bekannt (und offensichtlich geschätzt) unter experimentellen Musikern in Japan. Radu und Manfred waren seit 2004 öfters dort, jüngst auch zusammen mit Antoine. In kurzer Zeit entstanden einige sehr schöne Projekte zwischen diesen Musikern — darunter zuletzt einige wunderbare CD’s: Manfred Werder’s 20061 auf Toshiya Tsunoda’s Label Skiti, A Young Person’s Guide to Antoine Beuger (produziert von Taku Sugimoto für sein Label Slub Music), und kushikushism, ein Duoprojekt von Radu Malfatti und Taku Unami (ebenfalls auf  Slub Music).

Antoine erzählte mir eine Geschichte, die mehr oder weniger symbolisch ist für die Weise, wie Wandelweiser in Japan verstanden wird, besonders unter jungen Künstlern. Als Manfred, Radu und er im November 2007 in Tokyo waren, bekam Antoine viele CD’s geschenkt von jungen Musikern, oftmals ohne Beschriftung. Ein bestimmter Musiker gab ihm ein paar CD’s und erklärte zu jeder einzelnen, ob er “mehr Wandelweiser” oder “weniger Wandelweiser” sei. Auf einer der “mehr Wandelweiser” CD’s, gab es, wie sich herausstellte, gar keinen Klang.

In letzter Zeit habe ich die experimentelle Musik der japanischen “onkyo”-Gruppe und ihre Ableger viel besser kennengelernt und ich musste dabei oft zurückdenken an die Gedanken hinter Radu’s Kommentar. Manchmal sind die Interessen, wenn nicht die Musik,  so ähnlich, dass sie fast identisch sind: als ob eine Gruppe von Ideen zirkuliert, deren sich keiner so richtig bewusst ist – als hätten sie keinen Ursprung und könnten sie sich dort niederlassen, wo sie eben einen „Wirt“ finden.


(keith rowe, sachiko m, toshimaru nakamura, otomo yoshihide)

In der Musik von Sachiko M und Toshimaru Nakamura gibt es eine solch intensive Stille (bzw. kann es sie geben). Wo kommt sie her? Steht sie auch anderen zur Verfügung? In der Arbeit von diesen Musikern mit Keith Rowe finde ich eine inspirierende Parallele zu mancher Musik, die ich durch meine Wandelweiserfreunde kennenlernte. Selbstverständlich gibt es viele Unterschiede: das Vorherrschen elektrischer Instrumente über akustische, die Tatsache, dass die Musik improvisiert ist, und die unterschiedlichen Linien, die die Musiker mit ihren Traditionen verbinden, um nur die Nächstliegende zu nennen. Aber die Ruhe, die Stille und die klare Schönheit; das Gefühl, sich Zeit zu nehmen und darauf zu vertrauen, dass das Publikum sich ebenfalls Zeit nimmt; die Entwicklung der Arbeit und das Empfinden, dass eine lebendige Forschung stattfindet: all dies deutet für mich auf eine tiefere Verwandtschaft hin.
 
Das unglaubliche Konzert von diesen drei Musikern (zusammen mit Otomo Yoshihide) am 14. Mai, 2004, in Berlin (dokumentiert auf ErstLive 005) ist dafür vielleicht das repräsentativste (und schönste) Beispiel -  besonders die letzte CD.

Wenn ich jetzt über unsere Gruppe, und besonders über die vielen Freunde dieser Musik,  nachdenke, frage ich mich, ob nicht einige der zerbrechlichsten Samenkörner, die John Cage und die experimentelle Tradition, bestimmte Teilgruppen innerhalb des Free Jazz und der improvisierten Musik, und die stillen experimentellen Strömungen in Japan (Toshi Ichiyanagi, Yuji Takahashi) gepflanzt haben, nach vielen Jahren im Untergrund schließlich zu blühen angefangen haben: unsichtbar – überall.

Sommer/Herbst 2009


 
Ich möchte Jon Abbey, Manfred Werder, Radu Malfatti und Antoine Beuger danken für ihre Hilfe beim Schreiben dieses Textes.
 
 
 
 
Bildnachweise:

01. das wandelweiser komponisten ensemble (joachim eckl)
02. antoine beuger (hartmut becker)
03. john cage (ben martin)
04. jimi hendrix (fotograf unbekannt)
05. desert plants (unbekannt)
06. stones (CD cover/ida maibach)
07. zionskirche (unbekannt)
08. christian wolff (unbekannt)
09. gilles deleuze (standbild vom französischen fernsehen)
10. radu malfatti/mattin (yuko zama)
11. mauser in seinem atelier (marianne hambach)
12. sonnenzeichnungen - christoph nicolaus) (kathryn pisaro)
13. marcus kaiser (in sook kim)
14. kunstraum - mit eva-maria houben, john mcalpine, michael pisaro
     (renate hoffmann korth, website edition wandelweiser)
15. wolff.beuger.frey (silvia kamm-gabathuler, website edition wandelweiser)
16. sachiko m/dan flavin installation (yuko zama)
17. taku sugimoto/radu malfatti (eleen deprez)
18. keith rowe/sachiko m/toshimaru nakamura/otomo yoshihide (yuko zama)

 








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