Klang/Körper (2004) > 
               
              Programmnotiz zu Wasserschloss > 
                
               
               
               
               
              Thomas Stiegler 
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              Klang/Körper (2004) 
                 
                
              Auf die Körperlichkeit eines Instruments zu verweisen hieße
              Eulen nach Athen tragen. Diese ist bekannt und hat Anlass für
              zahlreiche literarische wie auch karikaturistische Anspielungen
              gegeben. So ist die Bezeichnung "Klangkörper" für ein
              Instrument oder eine Instrumentengruppe nicht überraschend. Dabei
              scheint insbesondere der Verweis auf den menschlichen Körper als
              Bezugspunkt von vorrangiger Bedeutung zu sein. Augenfällig ist
              hierbei die Parallele von vielschichtig miteinander verknüpften
              Regelkreisläufen hier wie dort. 
               
              Ob nun auch dem Klangprodukt selbst eine eigene Körperlichkeit
              zugeordnet werden kann lässt sich ungleich schwerer beurteilen.
              Dies beruht vornehmlich auf dem nicht-materiellen Wesen der
              Klänge, welches eine direkte Analogiebildung erschwert.
              Tatsächlich ist hier von einer komplexen und sehr
              eigenständigen, nicht sicher interindividuell reproduzierbaren
              Transferleistung des Hörers auszugehen. So dürfte es schwer
              fallen, sichere Definitionskriterien zu benennen, die einem Klang die
              Qualität "blau" zuschreiben. 
               
              Allerdings scheinen es zwei Faktoren zu sein, die Klängen eine
              körperliche Fasslichkeit verleihen. So ist auffällig, dass
              die jeweilige Analogiebildung eine zentrifugale Tendenz aufweist und
              gleichzeitig mehrere höchst unterschiedliche Kategorien
              angesprochen werden. 
              Eine Kategorie ergibt sich dabei aus dem Verweis auf die materielle
              Substanz des Klangkörpers. Dies lässt sich leicht bei
              einfachem Schlagwerk nachvollziehen, welches beispielsweise einen
              "hölzernen" oder "metallischen" Klang erzeugt. Zwar ist diese
              Analogiebildung bei komplexeren Instrumenten, die sich aus
              verschiedenen Materialien zusammensetzen, schwierig und
              zwangsläufig weniger eindeutig, vom Prinzip her jedoch gleich. 
              Eine andere Kategorie ist der Verweis auf eine dem Klang qua Erfahrung
              oder Konvention zugeordnete Situation, die je nach dem  Heimat
              oder Fremde darstellen kann. In jedem Fall wird dabei der Klang in
              einen funktionalen Bedeutungszusammenhang gerückt, welcher eine
              sichere situative Zuordnung ermöglicht[1]. 
                
              Strikt abzugrenzen ist ein weiterer Faktor, welcher sich aus dem
              Nebeneinander von Klang und Stille ergibt[2]. Hierbei fungiert die
              Stille mitnichten als Rahmen, der schmückend und betonend auf das
              von ihm umfasste Objekt verweist[3]. Vielmehr entwickelt sich hier
              durch den Hörer eine Situation des Dialogs welche im Stande ist,
              zusätzliche Freiheitsgrade einzuflechten, aus denen sich eine
              vieldimensionale Anschauung ergeben kann. 
                
               
               
              [1] Als zufälliges Beispiel sei hier auf den Klang einer Kirchenglocke
                verwiesen. Der hiervon ausgehende Verweis dürfte dabei durchaus
                unterschiedlich ausfallen. Was den einen zum Kirchgang motiviert mag
                dem anderen als Bote eines repressiven Weltbilds erscheinen. In jedem
                Fall ergibt sich ein feststehender Bedeutungszusammenhang, welcher dem
                Klang körperhafte Qualitäten zukommen lassen kann.  
                [2] vgl. hierzu die Texte von Jürg Frey  "Es gibt das Leben"
                (1996) und "Architektur der Stille" (1998)   
                [3]
                Das Gegenteil ist hingegen nicht selten anzutreffen. Das viel bemühte
                Beethovenzitat aus den späten Skizzen, nach dem eine Pause den Tod
                darstellen könnte mag hier als Hinweis darauf angeführt werden, dass
                Stille inmitten von Klängen dazu tendiert, sich eine klar definierte
                Bedeutung anzueignen.  
                 
                 
                 
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              Thomas Stiegler 
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                Programmnotiz zu Wasserschloss (UA der vollständigen Fassung 12/03) 
                
              Thomas Stiegler: Wasserschloss (1994-2003) 
              Elf Stücke nach Anagrammen von Unica Zürn 
                
              1.         In meinem Herzen waechst ein Huehnerauge 
                          
                          Wenn ruhige Traeume nahen, zeichne es heim 
                          im Herzen. Meine Ahnen husten. Graue, weiche 
                          Hechte naehen ihre zween Ringe aus Mumien. 
                          In meinem Huehnerherzen waechst ein Auge.  
                          (1959) 
                           
                          [Stimme, Violine, Viola, Violoncello; 1994] 
               
                
              2./5.     Wunderbare Listen    
               
                          Bunter Wanderseil 
                          wilde Narrenstube 
                          Rabenwein der Lust. 
                          (1956) 
               
                          [2.: Flöte, Klarinette, Kontrabass; 2000; 
                          
              5.: Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Kontrabass; 2000] 
               
                
              3.         Mutti, warum schlafen die Fliegen im Stehen? 
               
                          Sie gehen um, laufen mitten im Schlaf weiter. 
                          (1960) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier;
              1994] 
               
               
              4.         Neunzehnhundertsechsundfuenfzig 
               
                          Sehnsucht zu finden und ferne zu gehen 
                          fing Sternenhuhn den Fuchs. Zuende zu 
                          suchen, zu sehn und zu finden, geht fern. 
                          (1957) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello,
              Kontrabass, Klavier;                  1994/95] 
               
                
              6.         Der Geburtstag des schwarzen Baron 
               
                          Rabenbrut des Todes – schwarzer Gang. 
                          (1964) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello,
              Kontrabass, Klavier;                 11/2003] 
               
                
              7.         Hotel de L´Esperance, Zimmer zweiundvierzig 
               
                          Prinz vom Meer, du laechelst reizend, zeig´, wie 
                          du zwei seidener Ziegen prachtvolle Zimmer 
                          zerzaust. Vier Perlenzeichen im Gold, wie dem 
                          Tode zur Zierde. Perlzweig im Veilchensamen, 
                          Perlenzimt im Venuswald. Zierde, ich zoegere, 
                          dich zu spalten. Vierzig Zimmer – O Leere – wende 
                          dich weiter, perlend im Meer von Salz. Zeige zu 
                          weisen Zimmern, Tod. Leid, ich verzage, Perle zu 
                          Perle – die Zwitscherzimmer – dein Voegelzaun. 
                          (1956) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello,
              Kontrabass, Klavier;                  2000] 
               
                
              8.         Aus dem Leben eines Taugenichts 
               
                          Es liegt Schnee. Bei Tau und Samen  
                          leuchtet es im Sand. Sieben Augen 
                          saugen Seide, Nebel, Tinte, Schaum. 
                          Es entlaubt sich eine muede Gans. 
                          (1958) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello,
              Kontrabass, Klavier;                  10/2003] 
               
               
              9.         Das Wasserschloss in Montpellier 
               
                          Still – Wasser sind Moos. Perlaschen- 
                          Rose des roten Psalms will sich ans 
                          Wind-Lama pressen. Leis´ rollte das 
                          Enten-Ross. Waldpalme riss sich los. 
                          (1954) 
               
                          [Stimme, Klavier; 9/2003] 
               
                
              10.       Die Nuetzlichkeit ist aller Laster Anfang 
               
                          Zart sang ein Leichenkleid aus Flitter alt: 
                          Neuland, Angst, ich friere kalt. Alle Zeit ist 
                          aller Anfang. Die Nuetzlichkeit ist Laster. 
                          (1955) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier;
              1994] 
                
               
              11.       Ich weiss nicht, wie man die Liebe macht  
                          
                          Wie ich weiss, ›macht‹ man die Liebe nicht. 
                          Sie weint bei einem Wachslicht im Dach. 
                          Ach, sie waechst im Lichten, im Winde bei 
                          Nacht. Sie wacht im weichen Bilde, im Eis 
                          des Niemals, im Bitten: wache, wie ich. Ich 
                          weiss, wie ich macht man die Liebe nicht. 
                          (1959) 
               
                         
              [Stimme, Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello,
              Kontrabass, Klavier;   
                          11/2003] 
               
               
              Das jeweilige Entstehungsjahr des Anagramms ist in runden Klammer
              vermerkt. In eckigen Klammern stehen die Besetzung sowie der
              Entstehungszeitpunkt der einzelnen Stücke.  
               
              Das vom Thürmchen-Ensemble 1994 uraufgeführte Wasserschloss war mit drei Stücken  
              (No 1, 3 und 10) und einer Gesamtdauer von knapp drei Minuten eher ein Schlösschen. 
              Nummer 5 ist in seinem ersten Leben ein Stück für das Glockenspiel in Breisach gewesen. 
              Zum Anlass der Aufführung durch das Ensemble Aventure entstanden als Zugbrücke die  
              Stücke 2 (Wunderbare Listen ohne Stimme), 5 (dito, jetzt mit Stimme) und 7. 
              Der Wassergraben in Form der Stücke 6, 8, 9 und 11 lief erst in diesem Spätherbst ein.  
                
               
               
               
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